Dein Wolfgang
Hartmann stand auf und ging mit weichen Knien ins Bad. Er drehte den Wasserhahn auf und benetzte sich das Gesicht.
Lieber Heinz. Das Stichwort. Es geht los. Hartmann zitterte.
Reiß dich zusammen, dachte er. Er ist verschlüsselt. Du musst ihn entschlüsseln. Es ist ganz einfach. Siegfried hat es dir genau erklärt. Es ist Geheimpapier.
Hartmann kehrte ins Wohnzimmer zurück und nahm sich einen Bleistift und ein Blatt Papier aus der Schublade seiner Wohnzimmeranrichte. Dann holte er aus der Küche das Codebuch, das er aus dem hohlen Frühstücksbrettchen nahm, das bei den anderen Frühstücksbrettchen im Küchenschrank stand. Er ging ins Wohnzimmer zurück und setzte sich an den Tisch, um mit der Entschlüsselung zu beginnen.
Der Absender hatte zuerst mit einem leeren Kugelschreiber eine Zahlen- und Buchstabenfolge auf das leere Blatt Papier geschrieben. Dann hat er mit normaler Tinte den Brief geschrieben. Hartmann musste jetzt mit dem Bleistift das Blatt schraffieren, um die Abdrücke und somit den zu dechiffrierenden Text zu erkennen.
Nach ein paar Sekunden war die Struktur sichtbar. Hartmann konnte die Ziffernfolge erkennen und schrieb sie noch einmal ab. Dann nahm er das kleine Codebuch, das ihm Heine gegeben hatte, und schlug es auf. Nach einer Viertelstunde hatte er den Text fertig.
Bitte Informationen über die sowjetische Radaranlage in Pankow sammeln. Antwort bitte in den nächsten 14 Tagen.
Hartmann atmete tief durch. Hier war sie, die erste Aufgabe. Zum Glück kannte er den Standort der Anlage. Bei einigen seiner unzähligen Fototouren rund um Berlin war er oftmals auf militärische Anlagen gestoßen, ohne näheres Interesse daran zu zeigen. Bislang hatte er zugesehen, so schnell wie möglich von dort wegzukommen. Nun ist es umgekehrt, dachte er. Ich muss vorsichtig vorgehen, aber ich habe ja meinen Fotoapparat als Vorwand, wenn mich jemand anspricht. Plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke. Ich muss den Zettel verbrennen. Und den Brief ebenfalls.
Bevor er die Papiere verbrannte, notierte er sich die Adresse auf einem Zettel, den er in seinem Portemonnaie steckte. Nun geht es los, dachte er und kaute nervös an einem Fingernagel. Er schaute auf die Uhr.
»Verdammt!«, schrie er auf.
Es war 18.10 Uhr. Er war um 17.30 Uhr mit Dagmar verabredet gewesen.
Hartmann betrat das kleine Café und sah sich um. Er entdeckte Dagmar alleine an einem Tisch. Sie rührte gelangweilt mit einem Löffel in ihrem Kaffee. Er setzte sich ihr gegenüber und nahm ihre Hände in seine.
»Entschuldige bitte«, stammelte Hartmann.
»Ich musste länger machen in der Werkstatt. Irgend so ein hohes Tier von der Partei hatte ein Problem mit seinem Wagen.«
Dagmar sah ihn prüfend an.
»Du bist ganz blass, geht es dir nicht gut, Schnecke? Und schwitzen tust du auch. Naja, ist ja auch noch schön warm draußen.«
Schnecke nannte sie ihn immer. Er musste immer grinsen, weil er sich nicht an diesen Kosenamen gewöhnen konnte. Auch dieses Mal.
»Nein, alles in Ordnung. Es war ein langer Tag. Wollen wir noch rausfahren? Du wolltest mir noch etwas zeigen.«
Dagmar blickte ihn geheimnisvoll an.
»Na klar, ich bin so weit.«
Hartmann stand auf.
»Na dann mal los.«
Sie fuhren mit der S-Bahn Richtung Straußberg. Die Abendsonne in diesem Spätsommer war noch angenehm warm. Dagmar hatte am Morgen einen Korb mit etwas Brot und Wurst, einer Kanne Tee sowie einer Wolldecke gepackt.
Als sie aus der S-Bahn ausstiegen gingen sie Händchen haltend Richtung Ortsausgang. Der Verkehr wurde jetzt deutlich weniger. Es kamen ihnen auch nur noch vereinzelt Passanten entgegen. Irgendwann waren sie ganz alleine auf einem Schotterweg unterwegs. Sie unterhielten sich über den Tag auf der Arbeit. Bald erreichten sie große Felder mit Mais und Getreide.
Dagmar zog Bernd sanft Richtung Maisfeld. Sie gingen ca. 20 Meter in das Feld hinein, bis Dagmar stoppte. Hartmann beobachtete, wie sie die hohen Pflanzen im Umkreis von zwei Metern umknickte und auf den Boden drückte.
»Und wenn ein Bauer kommt?«, fragte Hartmann, während er unsicher auf jedes Geräusch achtete.
»Nicht um diese Zeit. Die essen alle zu Abend.«
Dagmar breitete die Decke aus und fing an, sich auszuziehen. Hartmann betrachtete sie mit neugierigen Blicken.
»Glotz nicht, mach dich auch nackig«, forderte sie ihn lachend auf.
Hartmann zog sich ebenfalls aus, ohne seine Augen von ihr abzuwenden. Dagmar hatte die Zöpfe aufgemacht und schüttelte ihren langen rotblonden Schopf. Einladend legte sie sich auf die Decke und klopfte mit der flachen Hand auf den Platz neben sich. Hartmann folgte der Aufforderung und zog sie an sich heran. Dann liebten Sie sich innig und leidenschaftlich.
Hartmann war aufgeregt. Er freute sich auf der einen Seite über die erste Aufgabe, die er bekommen hatte. Andererseits hatte er Angst, ein zu großes Risiko einzugehen. Dennoch war er fest entschlossen, heute seine ersten Erkundigungen einzuholen.
»So, tschüss bis morgen dann.«
Nachdem er sich die Hände gewaschen und umgezogen hatte, verabschiedete sich Hartmann von seinen Arbeitskollegen und trat aus der Kfz-Werkstatt ins Freie. Links neben dem Gebäude stand seine Schwalbe vom Typ KR 51. Einen PKW hatte Hartmann wegen der langen Lieferzeiten von bis zu zehn Jahren noch nicht.
Er stieg auf das Moped, steckte den Zündschlüssel hinein und startete es mit einem kräftigen Antritt. Der schrill kreischende Motor mit 1,8 PS sprang sofort an. Bernds Ziel an diesem späten Nachmittag war der alte Wasserturm neben der Grundschule von Pankow-Heinersdorf im Norden von Berlin. Dort stand die sowjetische Radaranlage zur Überwachung des Luftraumes von Berlin und des gesamten Umlandes, über die er weitere Informationen sammeln sollte.
Sein Herz schlug bis zum Hals, als er losfuhr. Die schlechte Straße, zum Teil noch mit Kopfsteinpflaster versehen, forderte seine volle Konzentration, so dass er sich ein wenig beruhigte.
Nach einer guten Viertelstunde war er am Ziel. Er stellte die Schwalbe in einer Nebenstraße ab, nahm seine Kamera aus der Satteltasche und schlenderte in Richtung Anlage. Auf dem Grundstück waren einige Uniformierte zu sehen. Hartmann machte diese als Soldaten der NVA, der nationalen Volksarmee, aus. Als er sich der Anlage bis auf fünf Meter genähert hatte, versuchte er, den Durchmesser der Parabolantenne zu schätzen.
»Schöne Antenne, nicht wahr?«
Hartmann zuckte zusammen. Ein NVA-Soldat hatte ihn von der anderen Seite des Zaunes gesehen und ihn angesprochen.
»Da bekommt man viele Radiosender mit, oder?«, entgegnete Hartmann.
Der NVA-Mann lachte.
»Ne, damit visieren wir den Flugverkehr an, hier und drüben.«
Der Mann zog an seiner Zigarette und schnippte sie dann weg. »Und nun verschwinden Sie, sonst muss ich Meldung machen.«
Hartmann wirkte sichtlich erleichtert.
»OK. Danke.«
»Nichts für ungut, Genosse.«
Hartmann warf einen letzten Blick auf die Umgebung. Dann drehte er um und ging zur Rückseite des Turms, wo einige Militärfahrzeuge parkten. Auch hier waren einige Wachsoldaten zu sehen. Insgesamt ca. 20 Soldaten als Wachmannschaft, versuchte er sich zu merken.
Hartmann schlenderte die Straße hinunter bis zur nächsten Abbiegung. Er machte noch ein paar Fotos von den Pflanzen am Wegesrand. Dort ging er einen weiten Bogen um die Radaranlage zurück zu seinem Moped. Er hatte genug gesehen.
Erleichtert, seine erste Aufgabe erledigt zu haben, startete er die Schwalbe und fuhr nach Hause. Das ist ja wirklich kinderleicht, dachte er. Ich muss nur ein wenig vorsichtiger an die Objekte herangehen. Das heute war zu ungestüm. Wenn der NVA-Mann schlechte Laune gehabt hätte, wäre es vielleicht unangenehmer geworden. Ich muss mir auch ein paar Ausreden zurechtlegen. Und der Fotoapparat muss immer dabei sein.
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