Marthe Cohn - Im Land des Feindes

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"Im Land des Feindes" erzählt die wahre Geschichte der französischen Jüdin Marthe Hoffnung Cohn, die ihr Leben aufs Spiel setzte, um in Nazi-Deutschland kriegswichtige Vorhaben auszukundschaften. Aus einer Familie in der Grenzregion stammend, die verfolgte jüdische Kinder bei sich aufnimmt und später Menschen in die Freie Zone schmuggelt, ist ihr dieses Engagement eine Selbstverständlichkeit. Die Résistance, der sich Marthe unbedingt anschließen will, lehnt die zierliche Frau zunächst ab, doch aufgrund ihrer ausgezeichneten Deutschkenntnisse und ihrer unauffälligen Erscheinung wird sie als Spionin nach Deutschland geschickt. In hochdramatischen und gefährlichen Situationen beweist sie Geistesgegenwart und ungeheuren Mut. Marthe Cohns Geschichte, geprägt vom leidvollen Schicksal ihrer Familie und ihres ganzen Volkes, beeindruckt durch den Kampfgeist einer Frau, die in ihrer Jugend alles riskierte und auch heute noch unermüdlich als Zeitzeugin für Gerechtigkeit und Freiheit eintritt.

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Inhalt

[Cover]

Titel

Gefährliches Terrain

Das Lothringer Kreuz

Eine fremde Welt

Die Schlinge zieht sich zu

Ein leuchtender Stern

Grenzüberquerung

Gebrochene Versprechen

Geplatzte Träume

Die Scherben auflesen

Eine ungewöhnliche Spionin

Erneute Grenzüberquerung

In der Höhle des Löwen

Die Kunst der Verstellung

Der Anfang vom Ende

Die Wahrheit und ihre Folgen

Aufbruch zu neuen Ufern

Der Kreis schließt sich

Epilog

Bildteil

Danksagung

Zitat- und Bildnachweis

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Über das Buch

Impressum

Gefährliches Terrain Für Angst blieb keine Zeit Meine Mission war eindeutig - фото 1

Gefährliches Terrain

Für Angst blieb keine Zeit. Meine Mission war eindeutig. In einer klirrend kalten Nacht im Februar 1945 verließ ich kurz vor Mitternacht mit vier Offizieren und zwanzig marokkanischen Soldaten die französische Kleinstadt Thann. Die Männer waren mit Maschinengewehren, Maschinenpistolen und Handgranaten bewaffnet und für die Kälte bestens gewappnet. In meiner Rolle als Martha Ulrich, einer jungen Krankenschwester auf der Flucht vor den Alliierten, gehörte es zu meiner Tarnung, weder bewaffnet noch winterfest gekleidet zu sein. Ich trug einen einfachen Wollrock, eine Jacke, Mütze und Handschuhe, an den Füßen lediglich Skistiefel und darunter Kniestrümpfe.

Es war stockfinster und eisig kalt. Die mächtigen Tannen und Kiefern schluckten das wenige Licht in jener Winternacht. Nur der Schnee schimmerte hell. In einer langen Reihe stapften wir durch die hohen Schneewehen – vierzehn Männer vor und zehn hinter mir. Während meine Begleiter bis über die Knie einsanken, reichte mir der Schnee sogar bis zu den Hüften. Bei jedem Schritt musste ich mein Bein mit beiden Händen aus dem Schnee ziehen, aber zum Glück verlor ich nie das Gleichgewicht. Mein einziger Trost war, dass mir dabei warm wurde. Ich spürte, dass die Männer mich nicht aus den Augen ließen, um mir zu Hilfe zu eilen, falls ich stürzen sollte. Doch mein Ehrgeiz, mit ihnen mitzuhalten, trieb mich voran.

Fünf Stunden lang marschierten wir in völligem Schweigen, da wir wussten, dass ringsum die Deutschen lauerten. In einer so stillen, froststarren Umgebung tragen Geräusche erstaunlich weit. Seit wir Thann mit seinen windschiefen Häusern hinter uns gelassen hatten, waren wir mindestens fünf Kilometer bergauf, dann bergab in Richtung Amselkopf gegangen. Die verschneiten Gipfel der Vogesen ragten hoch über uns auf.

Am Rand eines kleinen Tals blieb unser Anführer stehen und sah mich ernst an. Hier würde meine Eskorte umkehren. Wir befanden uns in einem Kiefernwald, der so dicht war, dass wir kaum etwas sehen konnten. Keiner sagte ein Wort; wir verständigten uns nur mit Handzeichen. Unser Führer leuchtete mit einer abgeschirmten Taschenlampe auf seine Karte und zeigte mir noch einmal den schmalen Pfad, dem ich am Südhang des Berges folgen sollte. Es gab mehrere parallel verlaufende Wege. Sobald ich den zweiten Pfad erreicht hätte, sollte ich bis Sonnenaufgang warten, dann etwa eine Stunde an der Bergflanke entlanggehen, bis ich am Ende des Passes auf einen schwer bewaffneten feindlichen Posten stoßen würde.

»Die Deutschen schießen auf alles, was sich bewegt«, hatte mich unser Führer am Vorabend gewarnt. »Denken Sie daran, tot nützen Sie niemandem was.«

Stumm winkten mir die Männer zum Abschied und verschwanden zwischen den Bäumen. Leutnant Neu, der inzwischen ein guter Freund war, drückte meinen Arm.

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und stapfte weiter durch die Finsternis. Ich durchquerte das Tal und fand den zweiten Pfad, der in Richtung Osten führte. Meinen Anweisungen folgend, kauerte ich mich hinter einen Baum und wartete, bis die ersten Sonnenstrahlen den Himmel erhellten. Dann ging ich weiter. Ich war so angespannt, dass ich weder Müdigkeit noch Hunger noch Kälte spürte.

Nachdem ich ein kurzes Stück den Hang entlanggelaufen war, sah ich unten im Tal zwei deutsche Soldaten, die bäuchlings auf dem Boden lagen und sich mit Tannenzweigen getarnt hatten. Sie hoben die Köpfe, unternahmen aber nichts, um mich aufzuhalten. Ich reckte das Kinn und gab vor, sie nicht gesehen zu haben. Vermutlich waren sie Beobachter und wollten ebenso wenig entdeckt werden wie ich. Ich ging weiter und versuchte nicht daran zu denken, dass sie jederzeit den Abzug drücken konnten.

Ich wusste, dass ich meinem Ziel ganz nah war. Es konnte gar nicht anders sein. In Gedanken trieb ich mich unaufhörlich an.

Nur noch ein kleines Stück, Marthe. Bleib ruhig, lächle, weine, spiel Theater, wenn’s sein muss. Denk an den Oberst, denk daran, wie wichtig die Mission für ihn und seine Männer ist.

Ich erinnerte mich daran, wie er mich am Abend zuvor auf beide Wangen geküsst hatte. Dann hatte er sich rasch abgewandt, damit ich nicht bemerkte, dass ihm die Tränen in die Augen gestiegen waren.

Plötzlich sprang unterhalb von mir ein Soldat hinter einem Baum hervor. Sein Gewehr war direkt auf mich gerichtet, das Bajonett blitzte bedrohlich auf. Obwohl ich mit einem solchen Empfang gerechnet hatte, hätte ich vor Schreck beinah aufgeschrien. Ich holte tief Luft und schluckte. Dann sprangen drei weitere Soldaten hinter den Bäumen hervor, ihre Maschinengewehre im Anschlag, die Helme mit Tannenzweigen getarnt.

Als ich mich vorsichtig im Dämmerlicht umblickte, sah ich, dass ganz in der Nähe tote Soldaten auf dem Boden lagen; ihr Blut sickerte in den Schnee. Offenbar hatte es hier vor Kurzem ein Gemetzel gegeben.

»Nicht schießen!«, rief ich und hob die Hände.

Das Lothringer Kreuz

Ich bin in Metz geboren, einer Stadt in Lothringen, die von einer mächtigen Kathedrale überragt wird, in einer Region im Nordosten Frankreichs, die auf eine komplizierte und wechselvolle Geschichte zurückblickt. Da die französisch-deutsche Grenze nur etwa 45 Kilometer weiter östlich verlief, war die Gegend schon seit tausend Jahren Ziel feindlicher Übergriffe. 1871 annektierten die Deutschen das Gebiet und hielten es fast fünfzig Jahre besetzt.

Als ich am 13. April 1920 – keine zwei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs – zur Welt kam, hatte sich die politische Landkarte Europas verändert und Elsaß-Lothringen befand sich erneut in französischer Hand. Da wir in dieser historisch bedeutenden Grenzregion als wahre französische Patrioten aufgewachsen waren, erfüllte es uns alle mit Stolz, als General de Gaulle im Zweiten Weltkrieg das Lothringer Kreuz mit den zwei Querbalken zum Symbol des freien Frankreich erkor.

Metz war eine geschäftige, weltoffene Stadt mit barocken Giebeldächern und klassizistischen Fassaden. In den Stahlwerken und Kohlegruben des Umlands arbeiteten Polen, Italiener und Tschechen. Da Metz eine Garnisonsstadt war, wimmelte es in den Straßen von Soldaten. Am Ostufer der Mosel gelegen, war die Stadt ein wichtiger Knotenpunkt auf der Handelsroute zwischen Paris und Straßburg. Im 12. Jahrhundert wurde Metz freie Reichsstadt und hatte sich einen ganz eigenen Charakter bewahrt: Davon zeugten das mittelalterliche französische Viertel mit der gotischen Kathedrale Sainte-Étienne im Zentrum und die elegante »Ville Allemande« mit ihren Bürgerhäusern, die unter preußischer Besatzung entstanden war. Aufgrund seiner bunten Vielfalt an Plätzen aus dem 17. Jahrhundert, italienisch anmutender Straßenzüge und deutscher Prachtbauten war Metz keineswegs der triste Ort, den seine geografische Lage und seine industriellen Wurzeln hätten erwarten lassen.

Meine Eltern waren praktisch als Deutsche aufgewachsen. Da sie den Großteil ihres Lebens in einem besetzten Gebiet verbracht hatten, war es ihnen verboten, ihre Muttersprache zu sprechen. In der Schule wurde Deutsch gelehrt und jedem, der in der Öffentlichkeit auch nur ein einziges französisches Wort von sich gab, drohte Arrest. Als ich zur Welt kam, waren beide Sprachen erlaubt. Sieben Jahre lang hatte ich in der Schule Deutsch als Zweitsprache. Wir Geschwister unterhielten uns mit unseren Schulfreunden und einigen Nachbarn auf Französisch, aber mit unseren Eltern und den meisten Angehörigen ihrer Generation auf Deutsch. Französisch war für uns eine Art Geheimsprache. Wenn wir nicht wollten, dass unsere Eltern mitbekamen, was wir im Schilde führten, schwatzten wir fröhlich auf Französisch drauflos.

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