Alfred Hein
Novelle
Herausgegeben von
Annke-Margarethe Knauer
mit einem Vorwort von
Alois M. Kosler
Saga
Alfred Hein: Delta des Lebens. © 1925 Alfred Hein. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2016 All rights reserved.
ISBN: 9788711463697
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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Die Novelle „Delta des Lebens” wurde 1925 geschrieben, sie erschien 1926 in einer Zeitschrift („Der Oberschlesier”, Oppeln). Der Verfasser war damals 31/32 Jahre alt. – Wie in der Mitte der zwanziger Jahre, so besteht auch heute, in der Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, eine große Unsicherheit über den Sinn des menschlichen Lebens. Die totale Bedrohung unserer Existenz durch Gewalt und Wirtschaftsnot, der Überdruß an der Betriebsamkeit in der Großstadt, die Kritik an der Zivilisation, die Wirbel des Denkens um die Existenz Gottes, die Fragen nach dem gerechten, dem gütigen Gott, die Erschütterung des kirchlich-christlichen Glaubens: all diese Vorgänge im geistigen Leben unserer Zeit waren bereits verursacht und offenkundig geworden durch den Ersten Weltkrieg und in den Jahren danach. Sie waren eine Folge der Verheerungen des menschlichen Lebens, der weitgehenden Zerstörung humanistischer Kultur, der Erschütterung der christlichen Ethik. In den Jahren des „Stellungskrieges” konnte man nicht mehr „wegsehen” vom grauenvollen Tod des Kameraden, wie das noch Ernst Wurche, der junge, hochgesinnte Leutnant, zu Beginn des (Bewegungs-) Krieges in der Erzählung von Walter Flex „Der Wanderer zwischen beiden Welten” (1916) empfahl.
Der Westfront-Soldat Alfred Hein hatte den Stellungskrieg in vorderster Linie und an den schwerstumkämpften Stellen kennengelernt. So schrieb er schon 1917 als Soldat „Die Terzinen an die tote Isot”, erschienen 1918. Nach Kriegsende sprach er seine Sehnsucht nach einer in Frieden lebenden und sich entfaltenden Menschheit aus in den Büchern „Die Lieder vom Frieden” (1919) und „Der Lindenfrieden” (1920). Wie damals viele in der jungen und vom Krieg geprägten Generation, besonders in der Jugendbewegung, war auch Alfred Hein bewegt von der Hoffnung auf einen „neuen” Menschen, vom Glauben an das Gute im Menschen, vom Vertrauen auf die von Gott gegebene Ordnung der Natur. Hier treffen Heins Gedanken und die seiner Generation mit Gedanken, Wünschen und Sehnsüchten unserer Jahre zusammen. 1929 hat Alfred Hein sein bestes Werk veröffentlicht, die große Erzählung „Eine Kompanie Soldaten in der Hölle von Verdun” (1931 Volksausgabe im 52. Tausend, 1930 Übersetzung ins Englische, 1978 Neuausgabe im Limes Verlag, München). Für den Schlesier ist die Novelle „Delta des Lebens” auch eine Begegnung mit der Heimat: mit der Landschaft des Riesengebirges.
Vielleicht können wir es heute nicht mehr so ganz mit der Leichtfüßigkeit des Erzählungsstils halten, wie das bei Lesern vor 60 Jahren noch der Fall gewesen sein mag: das Springen von einer Handlungsepisode zur anderen, die schnell hergestellte Bühne des Auftritts, die plötzlichen Veränderungen der Szene durch hilfreiche Gestalten (sozusagen dei ex machina). Auch die Überschwenglichkeit der Sprache liegt uns heute nicht mehr – es ist die Sprache des literarischen Expressionismus. – An jedem Kunstwerk haftet etwas von der geistigen Aura der Zeit seiner Entstehung; aber man kann die Patina des Altertums oder des Altertümlichen auch als einen reizvollen Wert empfinden. – Die meisten Kunstwerke, die zu ihrer Zeit Beifall fanden, weil sie dem Geist der Zeit entsprachen, sind in Vergessenheit geraten, sie schwanden mit dem Zeit-Geschmack. Auch Heins Dichtung ist zu einem großen Teil versunken. Aber „Delta des Lebens” berührt Gedanken und Gefühle von Menschen am Ende des 20. Jahrhunderts. Die Stärke dieser Dichtung liegt in dem Ausdruck der Lebensfreude, der Liebesfähigkeit, dem Ringen um die „Mitte des Lebens”, um Gott. Sie ist Bekenntnis, ist Liebesgeschichte und Glaubensgeschichte in einem – Hoffnung auf das Einmünden der Ströme des persönlichen Lebens in das Meer der Unendlichkeit, der Wirklichkeit Gottes.
Alfred Hein wurde am 7. Oktober 1894 in Beuthen O/S geboren. Er wurde Journalist. Er starb am 30. Dezember 1945 in einem Lazarett in Halle a. d. Saale an den Folgen seines Einsatzes als Volkssturmmann im Zweiten Weltkrieg. Er war erst 51 Jahre alt.
Seinen literarischen Nachlaß verwaltet Frau Annke-Margarethe Knauer in Berlin.
München, im September 1984
Alois M. Kosler
Ich erwachte und brauchte nicht ins Büro zu gehen. Anziehen, Waschen, Rasieren waren plötzlich fröhliches Geschäft, zumal ich mir für die Reise alles neu besorgt hatte. Der halb gepackte Koffer stand offen, er leuchtete freundlich wie das lieblichste Zufallsbild meines Kaleidoskops aus der Kindheit, die Sonne schien auf ihn, sie verklärte das ganze möblierte Zimmer; nun, da es zum ersten Male seit Jahren auf Reisen ging, fiel mir vieles als hübsch auf, ich hatte es schon gehaßt. Denn eine zweite Maisonne leuchtete aus mir, nachdem ich wie in ewiger Winternacht dahingelebt ward von meinem Tun und Treiben, nur dann und wann ein kurzer Traum. Es ist schon so, der Mensch ahnt voraus, ob es ihm gut oder schlecht gehen, ob ihm alles oder nichts gelingen wird.
Heute war ich siegesgewiß, obgleich die Reise ins Ungewisse ging. Aber die Reise selbst war Gewißheit. Das war die Freiheit!
Brr! meine alte Landkrankenkasse! Wie bin ich nur hierher geraten, ein Doktor der Philosophie mit großen Träumen? Nun gab ich Unterschriften bei Aufrechnungen und mahnte die Herren Wisch- und Risch- und Tischkowski, ihre Beiträge zu bezahlen. Wolltest du nicht Professor sein mit dreißig Jahren? Da kam der Krieg mit seinen Wirren, da kam die Not. Unterkriechen! Geld verdienen! Na ja, da bin ich. Landkrankenkassenvorstand von Sandau, Dr. Lüchting.
„Der Herr Doktor reisen also?”
„Guten Morgen, Rischkowska! Ja, ich reise.”
„Das viele Geld, Sie könnten sich dafür ein ganzes Jahr lang gute Abende im Plesser Krug leisten und eine Gans zu Weihnachten.”
„Rischkowska, ich reise doch! Wissen Sie nicht, daß ich das Glück finden werde?”
Warum erzähle ich das der krummen, geizigen Schrumpel?
„Aber die Miete lassen Sie mir doch da für die Woche?”
„Hier, Madame. Ist der Wagen zum Dampfer bestellt?” Sie nickte und ging kopfschüttelnd wieder hinaus. Das Haar hing ihr in Strähnen, unter vier Unterröcken kroch ihre Körperwärme wie ein Gespenst hervor und hockte noch im Zimmer mitten in meiner jauchzenden Sonne. Aber ich sprang über dieses Gespenst „fidelen Strumpfes” an den Waschtisch. Eine Woche – herzlich wenig für einen Vorstand. Aber der Herr Gemeindevorsteher sagte, er könne mich nicht länger entbehren. An sich regierte ich nämlich das liebliche Sandau am Lewitzersee. Dies nebenbei. Heut war ich wieder zum Menschen geworden. Vorher Soldat. Dann Beamter. Nun endlich: Mensch. Dies stellte ich ohne Selbstbemitleidung fest. Ohne Pathos. Ich freute mich des Lebens, das ist alles.
Der Dampfer trug uns an alten Wäldern vorüber, in denen es noch Auerochsen und Wisente gab. Neben mir aber saßen zur Rechten und zur Linken zwei hübsche junge Mädchen, eine Blonde und eine Braune. Das klingt so gemacht, wie ich es bei der Rückerinnerung hinschreibe, und war doch ein so duftiges, ja rhythmisches Zufallsspiel der Natur. Beide liebte ich sofort. Wenn man aus einem kleinen Nest kommt, liebt man die erste beste, der man begegnet, so sie nicht gerade wie die Rischkowska aussieht. Ich wagte allerdings auch sofort zu lieben, weil in mir Siegesleuchten war. Aber heute brauchte ich mich gar nicht zu bemühen. Wie oft lief ich in großen Städten bei kurzen Dienstreisen, um etwas „Glück” sehr fragwürdiger Art zu erhaschen, stundenlang leichtfertigen Geschöpfen nach, ohne vor Schüchternheit zum Ziel zu gelangen.
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