Alfred Hein - Verliebte Ferienreise

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Eine besinnlich-fröhliche Erzählung mit kleinen Nachdenklichkeiten und Reflexionen, in denen sich Alfred Hein selbst Rechenschaft ablegt über Sinn und Ziel der größeren Wanderung, die sich Leben nennt. Im Mittelpunkt der Handlung stehen ein Geigenvirtuose und eine begabte angehende Pianistin mit ihrer schicksalhaften Begegnung in einem Ferienheim. In wechselvoller Spannung gruppieren sich um sie die Mit- und Gegenspieler, zu denen auch die fürsorgliche Wirtin des «Tannhäusels» und der nach Hörselberg-Abenteuern harmlos-lüsterne Wirt und Jäger gehören.

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Alfred Hein

Verliebte Ferienreise

Novelle

Saga

I

Es begann wieder um mich zu sein, das Gebiet längs des Sudetenkammes. Gemeinhin hieß es der Glatzer Kessel und war gewiß lieblich, oft sogar herrlich anzuschauen. Für mich, den Geiger bei der Berliner Staatsoper, Christoph Kreusler, blieb es das Kindheitsland, geliebt voll wortloser Zärtlichkeit. Hier wurde ich wieder der seines Namens und Wesens sich kaum bewußte Knabe, hier kehrte ich im tiefsten Sinne zurück an die Quellen meines Wesens. Und dies geschah mir in dieser Landschaft gerade deshalb, weil sie eigentlich gar nicht meine Heimat war. Jene lag hundert Kilometer weiter die Grenze entlang im oberschlesischen Industriegebiet. Dort wurde im Grunde nur die Sehnsucht geboren, das schönheitsdürstende Fernweh des Knaben, der dann bei der ersten Bergfahrt hierzulande erlöst wurde.

Dieser Bergfahrt meiner Jugendzeit aber erinnere ich mich noch genau. Unvergeßlich der Augenblick, als plötzlich ein blauer Dunst mit wolkenhaften Umrissen am Horizont näher und näher schwebte, bis es Berge waren, wie im Märchen. Und dann die Ankunft in einem so feierlichen Orte, der Bad Landeck hieß und ringsum hohe Berge hatte. Und auf einen dieser hohen, hohen Berge stieg ich am anderen Morgen hinauf. Im Zickzack und in Spiralen liefen die Wege. Ich stieg und stieg und glaubte schon, ich käme niemals an. Plötzlich war er da, der Gipfel. Und dann stand ich auf dem im Sommer noch mit Schnee bedeckten Berge, ein Knabe von zehn Jahren, und unter mir lag die Erde wie eine große Reliefkarte mit zwirnsfadendünnen Straßen und Spielzeughäuschen, mit mooshaft zusammengeschwommenen Wäldern und Wiesen. So groß fühlte ich mich mit dem Berg zusammen, so klein schien mir die Welt, mir, dem Zehnjährigen.

Nie bin ich mir größer vorgekommen, nie wieder stand ich in meinem Leben so stolz und kühn und riesenhaft auf einem Gipfel wie vor dreißig Jahren.

Damals marschierte ich an der Seite des Vaters, den schon die schlesische Erde deckt. Auch ich möchte einst in ihr ruhen, am liebsten hier. Ein Berglein zwischen all den heimatlichen Bergen, kaum ein Grab zu nennen. Das wäre ein grünes Bett und Tod und Leben wie vereint.

Es war die einzige Reise meiner Jugend, die hierher führte. Sonst ging es in den Ferien immer zu Verwandten nach Breslau oder in eine der kleinen oberschlesischen Kreisstädte, drüben in der Ebene.

All meine späteren Wanderfahrten durch das deutsche Land legte ich in gleichem Rhythmus an und erlebte sie wie Variationen auf das Grundthema dieser ersten Glatzer Reise.

In dieser Stunde, als der Zug in anmutigen Kehren die Waldhänge des Landes meiner Kindheit erklomm, wurde es mir offenbar: Alle Erlebnisse unseres Daseins wurzeln in unvergeßlichen festlichen Begegnungen der Jugend wie der Baum in seinem Boden. In den Lebensjahren zwischen zwanzig und dreißig gesteht ein Mann dies nicht gern ein. Sein Feld ist die Welt. Fast meidet er die Heimat. Erst wenn er »alles gesehen hat«, kehrt er wieder heim.

Gelassen, ein wenig müde. Und mit dieser Gelassenheit, abhold der großen Welt da draußen, sah ich mich jetzt in der traulichen Enge wieder, die diese Waldberge rundum mit einer undeutbaren Wehmutsüße schufen. Nun war ich reicher an Erfahrungen, und die Vergleiche flogen mir zu: Dieses Dorf lag unter den Felsen wie ein fast ähnliches in Frankenland, jenes dort war beinahe thüringisch, und dieses wiederum schwarzwäldisch anzuschauen. Aber das alles schien nur äußerlich die Vergleiche aufzudrängen. In Wahrheit schwebte immer der Hauch der Kindheit über dem ganzen Land meiner Ferienflucht, und in einem wundersamen Zufall hieß das Tal – mein Ziel — die Schmelze.

War das nicht Name genug, um mein Gefühl zu benennen für all das unbegreiflich Feierliche, das sich in einer Seele zutrug, die nach dreißig Jahren in die Heimat wiederkehrte? Hier lag, in Bergwaldwogen gebettet, das Herzbad, das auch meinem großstadtnervösen Herzen Heilung bringen sollte. Mit kindheitseligen Augen schaute ich es an. In diesem Augenblick gab es auf der Welt für mich nichts Schöneres als diesen bunten Kurort im grünen Tal. Ich lächelte: Hier ist gut sein.

Auf dem Bahnhof meines Reiseziels angekommen, gab ich die Koffer an der Aufbewahrungsstelle ab. Ich mochte nicht sofort auf Zimmersuche gehen. Es war erst früher Nachmittag, die Welt aber lachte so lieblich.

Auf einem stillen Hügel warf ich mich ins Gras, vor mir die Berge und drunten im grünen Schmelzetal der dämmerbunte Badeort. »Das alte Unnennbare«, flüsterte ich immer wieder, »das alte Unnennbare!« Woher stieg dieses Wort aus den unterbewußten Tiefen meiner Seele auf? Als ich nicht mehr darüber nachdachte, nur noch die Stimme der Natur vernahm und den Blick des Himmels spürte, da waren sie von selbst da, Mörikes Verse, die vom alten Unnennbaren erzählen:

Ich denke dies und denke das,

Ich sehne mich und weiß nicht nicht recht, nach was.

Halb ist es Lust, halb ist es Klage.

Mein Herz, o sage,

Was webst du für Erinnerung

In golden grüner Zweige Dämmerung?

Alte unnennbare Tage!

II

Das »Tannhäusel« wurde mein Quartier. Es lag auf halber Höhe allein für sich, dicht am Hochwald. Alle Wegweiser dort wiesen zur »Stillen Liebe«. So hieß der Berg da droben. Drunten im Kurort wollte mir keine Bleibe so recht gefallen. Die eine erschien zu protzig, die andere zu karg, bis ich das »Tannhäusel« hinter Gärten und Tannendickicht hervorlugen sah. Das Haus schaute mich gleichsam an. Es hatte eine Seele und erlebte sich selbst in Gottes freier Natur.

Zuerst schien es, als wollte mich das Haus nicht haben. Der Wirt, in Jägertracht, mit einem etwas an Hermann Löns erinnernden Falkengesicht, sagte zurückhaltend: »Meine Frau wird gleich kommen; aber ich glaube, es ist nichts mehr frei.«

Ich erwiderte, dies sei schmerzlich für mich, aber gewiß ein Lob für das Haus. Ja, meinte der Wirt, sie hätten seit Mai immer so gut wie alle Zimmer besetzt. Aber da sei seine Frau. Ein echtes Glatzer Kind war die Frau Wirtin. Schlesiens Rasse hat eine seltsame Mischung von altem und jungem Ausdruck im Gesicht. Die breit auseinanderstehenden Augen und die fast immer besonders bei den Frauen zu groß wirkende Nase geben dem Gesicht einen leichten Zug von Melancholie. Doch lächelndes Fälteln in den Augenwinkeln und um den Mund herum, vor allem auch der quellklare, tiefe Blick verjüngen das Antlitz liebenswert.

»Ich muß einmal nachdenken«, lächelte die Frau mich an. Mir war es in dieser Sekunde gleichgültig, ob die junge Frau ja oder nein entschied. Ich gab mich nur dem natürlichen Anhauch dieses Lächelns hin und dachte abermals: Hier ist gut sein.

Die Sympathie zwischen den Wirtsleuten und mir wuchs spürbar in diesen Minuten. Als die Frau noch immer nachdachte, wo sie mich zunächst an diesem Tage und in der kommenden Woche unterbringen könnte, fragte der Wirt plötzlich: »Sind Sie auch Jäger?«

»Nein.«

»Ich dachte, weil Sie auch solch grünen Lodenanzug tragen, und Sie haben auch so etwas wie einen Jägerblick.«

Ich lächelte. Was dieser Pseudo-Löns von mir denkt! Ich, ein Jäger? Schweigen wir von meinen Schützenkünsten in der Militärzeit. Auch sonst habe ich im Leben genug vorbeigeschossen, nie aber soviel wie bei den Soldaten. Ich war ein »Krummstiebel«, höchstens früher ein Schürzenjäger, und vielleicht bin ich – dieses Wort kam mir in dieser Stunde zum erstenmal – ein Menschenjäger. Einer, der den Menschen nachjagt, um zu spüren, daß sie Menschen sind. Dies alles dachte ich nur still für mich.

»Solch ein Lodenzeug ist so schön einfach und praktisch, in seinem Grün ein Stück Natur. Man kann sich mit seinem unverwüstlichen Stoff unmittelbar dem Wind und Wetter aussetzen, ins Gras werfen und platt an die Erde drücken, er nimmt den Ruch der Natur an und schließlich in sich auf, und darum liebe ich ihn. Mein Auge aber? Vielleicht vermag es zu prüfen, was echt und unecht ist in dieser Welt. Aber nein, auch das kann ich nicht. Ich lasse es nur hinträumen über Dinge und Menschen. Und vielleicht nimmt es manchmal wahr, was nur wenige oder andere gar nicht sehen.«

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