Anton Grewe saß neben Horst Hollmann, der auch von Schnurs Beförderung zum Dienststellenleiter profitierte. Er war gerade dabei, die Kriminaldienste zu durchlaufen, eine Vorstufe zur Festanstellung bei der Kriminalpolizei. Anke war jetzt schon gespannt, wie Hollmann seinen Karrieresprung verarbeiten würde. Dabei musste sie an Bernhard Diez denken.
Schnur begann mit der Besprechung: »Nach den Erkenntnissen des Archäologen wird ein Fund aus der Keltenzeit definitiv ausgeschlossen. Nun sind wir auf die Mitarbeit von Dr. Kehl angewiesen. Leider haben wir es seinem Eigensinn zu verdanken, dass wir das Ergebnis seiner Untersuchung noch nicht kennen.« Während er den letzten Satz aussprach, richtete er seinen Blick auf Anke. »Der Anthropologe will nur mit dir darüber sprechen.«
Anke wirkte verdrossen.
»Erik wird dich zur Uniklinik in Homburg begleiten«, fügte er an, ohne auszusprechen, warum er diese Anordnung machte.
Anke nickte.
»Sobald wir das DNA-Ergebnis haben, rede ich mit der Staatsanwältin.«
»Das ist wirklich aufregend! Und was machen wir in der Zwischenzeit?«, unterbrach Bernhard das Geplänkel.
»Du siehst alle Vermisstenanzeigen durch«, wies Schnur den Kollegen an.
Bernhard stöhnte: »Wir wissen noch nicht einmal, zu welcher Zeit unser Opfer verschwand.«
»Eine zeitliche Eingrenzung wird uns Dr. Kehl liefern.«
»Und wonach suche ich: nach einem Mann oder einer Frau?«
»Wie wäre es, nach einem Menschen zu suchen?«, stellte Schnur eine Gegenfrage.
Bernhard schluckte.
»Anton Grewe und Horst Hollmann werden dir dabei helfen. Hier hat sich noch niemand zu Tode arbeiten müssen.«
Bernhard verzog sein Gesicht zu einer Grimasse.
»Ich spreche mit Theo Barthels, dem Leiter der Spurensicherung, welche Spuren am Samstag – nach dem nächtlichen Besuch am Fundort – gesichert werden konnten. Vielleicht hat er Hinweise gefunden. « Mit diesen Worten beendete Schnur die Sitzung.
Anke und Erik verließen den Besprechungsraum.
»Ich finde es nicht richtig, Ernst Kehls Sonderwünschen nachzugeben«, begehrte Anke auf.
Nachdenklich schaute Erik seine Kollegin an.
Ihre dunklen Haare schimmerten rötlich im Schein der Sonne, die durch das Fenster schien. Ihre Haare reichten über ihre Schultern, einige kurze Fransen fielen ihr in die Stirn, wodurch ihr ebenmäßiges Gesicht keck wirkte.
»Da gebe ich dir Recht«, meinte Erik. »Trotzdem kann ich Dr. Kehl gut verstehen.«
Verständnislos schaute Anke Erik an, konnte aber keine Belustigung feststellen.
»Was soll das heißen?«
»Dass Dr. Kehl Geschmack hat.«
»Und ich werde gar nicht gefragt?« Anke kam die Wut hoch.
»Natürlich. Was glaubst du, warum Jürgen darauf besteht, dass ich dich begleite.«
Dr. Kehl stand im weißen Kittel vor einer Stahlfläche, auf der ein komplettes Skelett lag. Als er Anke eintreten sah, hielt er mit seiner Arbeit inne, zog seine Latexhandschuhe aus und begrüßte sie mit einer Freundlichkeit, die Anke als Warnung auffasste. Erik bekam nur ein kurzes Kopfnicken.
»Da sind Sie ja endlich.« Ohne seinen Blick von Anke abzuwenden, trat er auf das Skelett zu. »Ich habe die Knochen inzwischen untersucht und zugeordnet. Anhand der Knochennähte, die, wie wir hier sehen können, zusammengewachsen sind, handelt es sich um einen ausgewachsenen Menschen, Alter zwischen dreißig und fünfzig Jahren. Zu Lebzeiten erlitt er eine Fraktur am linken Oberarm. Von seinen Zähnen konnten wir nur einen einzigen finden, an dem wir die DNA–Analyse durchgeführt haben. Das Ergebnis hat das Labor noch nicht ermittelt. Aber im Laufe des Tages werden wir es erhalten.«
»Was ist die Todesursache?«, fragte Erik.
»Unser Opfer wurde doppelt ermordet«, erklärte Dr. Kehl. »Einmal wurde es erwürgt, das erkennt man daran, dass das Zungenbein gebrochen ist.« Er wies mit seiner behandschuhten Hand auf einen kleinen, vorstehenden Knochen zwischen den spärlichen Überresten des Unterkiefers und den oberen Halswirbelknochen, der umgeknickt war. »Weiterhin wurde auf Ober – und Unterkiefer mehrmals eingeschlagen, dass kaum etwas von den Knochen erhalten geblieben ist.« Er hielt kurz inne, schaute Anke eindringlich an. »Allerdings habe ich die erstaunliche Entdeckung gemacht, dass die Knochen bei unserem Opfer so brüchig waren wie bei einem alten Mann.«
»Jetzt wird es kompliziert«, stöhnte Anke.
»Ganz und gar nicht. Ich will damit sagen, dass die Knochen nur dadurch restlos zertrümmert werden konnten. Ansonsten bleibt immer noch etwas erhalten, was wir für Untersuchungen verwenden können.«
»Was heißt das für uns?«
»Entweder war das Opfer nach den Anstrengungen des Erwürgens immer noch nicht tot oder der Täter wollte vermeiden, dass die Identität des Opfers festgestellt werden kann.«
»Wäre das Opfer an der Zertrümmerung der Kiefer gestorben?«
»Bei dieser massiven Verletzung wäre es erstickt.«
»Wurden ihm die Verletzungen vor oder nach seinem Tod zugefügt?«
»Das kann ich nicht mehr feststellen.« Dr. Kehl zuckte mit den Schultern. Wieder blieb sein Blick auf Anke haften, als er anfügte: »Warum übt eine so aufregend schöne Frau wie Sie solch einen morbiden Beruf aus?«
»Das lassen Sie mal meine Sorge sein«, entgegnete Anke schroff und fügte ihre nächste Frage an: »Wie lange lag der Tote an dem Ort, an dem ich ihn gefunden habe?«
»Das ist schwer zu beantworten. Zwischen fünf bis zehn Jahren. Mit Sicherheit wurde er der ungewöhnlichen Hitze und Trockenheit im Sommer 2003 ausgesetzt. So etwas beschleunigt den Verwesungsprozess. Hinzu kommt, dass die Leiche nicht tief genug begraben wurde. Das begünstigt Tierfraß. Außerdem ist von seinen Kleidern nicht mehr viel erhalten geblieben, was vermuten lässt, sie waren blutgetränkt, sonst verrottet eine Hose nicht vollständig.«
»Tote bluten nicht«, funkte Anke dazwischen.
»Das beantwortet deine Frage, ob er noch lebte, als ihm die Verletzungen zugefügt wurden«, reagierte Erik darauf.
»Das sind vage Vermutungen«, schaltete sich Dr. Kehl schnell ein. »Wir wissen nicht, ob das Opfer vollständig bekleidet war, als es im Wald vergraben wurde.«
Die Veranschaulichungen wurden immer schauriger. Anke schüttelte sich bei der Vorstellung, was sich dort abgespielt haben musste, wo sie vom Pferd gefallen war.
»Sie sagten doch, dass Kleidungsreste in der Nähe des Fundorts lagen«, erinnerte Anke Dr. Kehl.
»Nur dürftige Stofffetzen, meine Schöne …«
»Ich bin nicht Ihre Schöne«, unterbrach Anke den Alten.
»… zum vollständigen Bekleiden zu wenig«, sprach der Anthropologe unbeirrt weiter. »Zudem lagen dort eine Gürtelschnalle und ein Schlüssel, gnädiges Fräulein.«
»Für Sie immer noch Kriminalkommissarin Deister. Ihre Verniedlichungen können Sie sich sparen!«
»Ganz schön rebellisch, Ihre Kollegin«, wandte sich Dr. Kehl an Erik, der nur mit einem grimmigen Blick reagierte. »Sämtliche Fundstücke befinden sich bereits im Labor bei Theo Barthels, der die kriminaltechnische Untersuchung daran durchführt.«
Erik hörte, dass sich der Arbeitstag seinem Ende näherte. Nach und nach verstummten die Telefone und das leise Klappern der PC-Tastaturen. Dann erstarben die Stimmen der Kollegen, die sich immer etwas zu erzählen hatten, bis die letzten Schritte auf dem Korridor verhallten. Wie so oft blieb er allein in den Räumlichkeiten zurück. Private Termine, die keinen Aufschub duldeten, hatte er nicht. Auch keine Familie, die auf ihn wartete. Sein Freundeskreis hielt sich in Grenzen. Lag das an seinen Arbeitszeiten? Oder schob er unbewusst die Arbeit vor, um sich nicht auf neue Freunde konzentrieren zu müssen? Er wusste es nicht. Gern übernahm er Dienste für Anke. Sie hatte eine kleine Familie, Menschen, die auf sie warteten. Und ein Pferd. Er gönnte ihr das Glück von ganzem Herzen, wollte seinen bescheidenen Beitrag dazu leisten und ihr einige Arbeitsstunden abnehmen. Leider fühlte er sich dabei nicht wie der fürsorgliche Freund, der er gerne wäre, sondern einsam. Die Stunden im Büro konnte er schon nicht mehr zählen.
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