»2002 warst du im Mutterschutz«, erinnerte sich Erik. »Zum Jahresende hatten wir den Stalking-Fall.«
»Stimmt! Im gleichen Jahr ist Kullmann in Pension gegangen – ich glaube, es war kurz vor Sommeranfang. Also müsste der Tote schon im Frühjahr dort abgelegt worden sein, während wir mit dem Polizistenmörder beschäftigt waren.«
»Dann wüssten wir beide davon.«
»Ich lag kurze Zeit im Krankenhaus«, gab Anke zu bedenken.
»In der Zeit ist nichts passiert.«
Schweigend aßen sie den Rest der großen Pizza auf, schoben die Verpackung beiseite und lehnten sich auf dem Sofa zurück.
»Wir sollten morgen mit Theo Barthels über die Gürtelschnalle sprechen«, unterbrach Erik die Stille.
»Glaubst du, er kann heute noch feststellen, wem sie gehört hat?«
»Ich hoffe es. Was mich stutzig macht, ist die Vermutung von Dr. Kehl, dass das Opfer keine Kleider mehr trug.«
»Das ist schrecklich.« Anke nickte. »Aber warum macht dich das stutzig?«
»Wenn er keine Kleider mehr trug, dann bestimmt auch keinen Gürtel mit Schnalle.«
Anke verzog ihr Gesicht zu einer ironischen Grimasse: »Du hast mich auf des Rätsels Lösung gebracht.«
Erik schaute Anke erwartungsvoll an.
»Es ist der Mann, der nichts anhat als den Gurt auf dem Schild an der Straße von zu Hause in die Stadt, wo ich so oft lang fahr.«
Erik ergriff ein Kissen und warf es mit Schwung in Ankes Richtung.
»Und ich dachte, es käme ein geistreicher Beitrag von dir.«
»Deine Beiträge sind auch nicht besser«, hielt Anke dagegen.
»Das Lied handelt übrigens von einer Frau – nicht von einem Mann.«
»Dann passt es aber nicht auf unseren Toten. Der ist nämlich eindeutig ein Mann.«
»Jetzt sind wir so weit, wie wir waren: Wir können nur hoffen, dass Theo Barthels diese Gürtelschnalle jemandem zuordnen kann.« »Vielleicht hat der Mörder sie getragen. Er wird nicht ebenfalls nackt im Wald herumgelaufen sein«, sinnierte Anke.
»Stimmt! Es könnte ein Kampf zwischen Täter und Opfer stattgefunden haben. Dabei hat der Täter die Gürtelschnalle verloren, ohne es zu merken.«
Anke hatte sich das Kissen geschnappt und versuchte jetzt, Eriks Kopf zu treffen. »Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Dass Mörder ihre Visitenkarte am Tatort zurücklassen, kommt nämlich äußerst selten vor.«
Erik fing das Kissen und schleuderte es zurück.
»Außerdem gab es noch einen Schlüssel am Fundort. Vielleicht sollte das eine Einladung des Täters sein, ihn zu verhaften«, trieb er den Spott weiter.
»Stimmt! Jetzt ziehen wir von Haus zu Haus und probieren den Schlüssel aus.«
»Goethe war gut!«, feixte Erik.
»Jetzt fällt mir wieder ein, dass im Jahr 2002 ein großes Unheil aus Köln zu uns gekommen ist«, neckte Anke ihren Kollegen und warf ihm das Kissen zurück. Diesmal traf sie.
Erik nahm es aus seinem Gesicht und legte es hinter seinen Kopf.
»Ich weiß nicht, wovon du redest«, murmelte er, wobei er sein Grinsen unterdrückte.
Stockfinstere Nacht. Von Panik erfasst rannte sie um ihr Leben, sah nicht, wo sie hintrat, lief immer nur weiter in der Hoffnung, ihrem Verfolger zu entkommen. Unter ihren Füßen spürte sie, dass der Boden weicher wurde. Sie hatte den Weg verlassen, ohne es zu bemerken. Wieder nahm sie in den Augenwinkeln den Lichtkegel einer Taschenlampe wahr. Er holte sie ein. Plötzlich glaubte sie, jemand riss ihr den Boden unter den Füßen weg. Mit einem heftigen Aufprall landete sie im Sand, der ihr in den Mund drang. Sie wollte schreien, bekam keinen Ton heraus – wollte sich aufrappeln, wurde jedoch von einem schweren Gewicht heruntergedrückt.
»Du entkommst mir nicht«, hörte sie eine bedrohliche Stimme. »Keine Frau entkommt mir. Ich bin euch allen überlegen!«
Während er sprach, gelang es ihr, sich aus seinem Griff zu befreien. Hastig sprang sie auf und rannte weiter. Aber die Dunkelheit machte es ihr unmöglich auszumachen, wo sie hinlaufen sollte. Da spürte sie wieder das Licht der Taschenlampe. Ohne es zu wollen, zeigte ihr der Verfolger damit den Weg. Sie erkannte die Mauersteine, die die Umrisse der alten römischen Villa aufzeigten, konnte über jeden Vorsprung springen, ohne zu stolpern. Sie gelangte an den überdachten Bau, der die Heizkammern der alten, römischen Fußbodenheizung zeigte. Dort wollte sie sich verstecken, weil das der einzige Ort war, der sich dazu eignete. Sie duckte sich, bevor der Schein der Taschenlampe sie erfasste. Hoffentlich war sie schnell genug!
Die Zuschauer hielten den Atem an.
Ein Besucher spazierte durch den Europäischen Kulturpark in Bliesbrück-Reinheim. Sein Interesse galt ganz besonders der altrömischen Fußbodenheizung, auf die die Archäologen bei ihren Ausgrabungen gestoßen waren.
Zunächst stieß ihn der unangenehme Geruch ab. Er beschloss, ihn zu ignorieren, weil ihn das Heizungssystem aus der Antike faszinierte. Doch der Geruch wurde immer beißender, bis er plötzlich auf eine halb verweste Frauenleiche stieß.
Er traute seinen Augen nicht. Das Summen von Fliegen und die schlängelnden Bewegungen tausender von Maden ließen keinen Zweifel daran: Diese Frau lag nicht seit über tausend Jahren an dieser Stelle, sondern erst seit wenigen Tagen!
*
Ingo Landrys Stimme schallte geisterhaft durch die Nacht. Wind frischte auf, was noch mehr Grauen in die Gemüter der Zuschauer trieb. Er schaute auf, sah nur kreideweiße, angstverzerrte Gesichter. Niemand bemerkte, wie spät es bereits war. Zum Glück hatte das Wetter mitgespielt, worauf man sich im März nicht immer verlassen konnte. Ein Regenschauer während seiner Lesung auf einer Freilichtbühne hätte seine Veranstaltung verdorben.
Den Ort seiner Buchvorstellung verdankte er seinem Freund Matthias Hobelt – dem er so manches verdankte, was die Entstehung dieses Buches betraf. Die Naturbühne in Gräfinthal als Ambiente für seine persönliche Veranstaltung war überwältigend. Die Wirkung seiner Einladung ebenso, denn die Anzahl der Besucher übertraf seine kühnsten Vorstellungen. Es waren so viele, dass er sie nicht mehr zählen konnte.
Die Stille, die abrupt nach seinem gruseligen Vortrag herrschte, unterstrich den Schauder noch. Die Menschen machten auf ihn den Eindruck, als wollten sie den Augenblick auskosten.
Kaum war der Zauber vorbei, da eroberte eine große, schlanke Frau die Bühne, übernahm das Mikrofon und begann zu sprechen: »Ich bin die Literaturagentin unseres Krimiautors Ingo Landry. Mein Name ist Sonja Fries. Wie ich sehe, hat Ingo Landrys Vortrag Sie gefesselt. Ihr Interesse ist geweckt. Sie können gerne Fragen an den Autor richten. Und wenn Sie erfahren wollen, wie diese spannende Geschichte weitergeht, können Sie das Buch »Emanzipation des Mannes« kaufen. Da steht alles drin.«
*
Damit brachte sie die Zuschauer zum Rasen. Sie stürmten zum Autor auf die Bühne, bombardierten ihn mit Fragen und kauften sein Buch mit großer Begeisterung alle wollten wissen, wie es in seinem Krimi Emanzipation des Mannes weiterging.
»Haben Sie schon ein neues Buch in Planung?«, fragte ein Besucher.
»Nein«, antwortete Ingo, wobei ihn die Sorge beschäftigte, dass er keine Idee für ein weiteres Buch hatte. Er musste alles auf diese eine Karte setzen.
»Wie sind Sie auf so eine spannende Idee gekommen?«, fragte ein anderer.
Nun musste Ingo sich bemühen, einen Schweißausbruch zu unterdrücken. Betont lässig antwortete er: »Bei einem Besuch des Europaparks in Bliesbrück-Reinheim kam mir die Idee.«
»Mussten Sie viel recherchieren, um dieses Buch zu schreiben?«
»Ein wenig.« Ingo grinste dämlich, weil er im Grunde genommen überhaupt nicht nachgeforscht hatte.
»Glauben Sie, dass Sie auf die Bestsellerliste kommen?«
Читать дальше