»Wo war ich damals?« Die Frage beschäftigte Anke viel mehr.
Kullmann musste überlegen, bis es ihm einfiel: »Du warst auf der psychologischen Schulung.«
Anke erinnerte sich. Kullmanns letzte Amtshandlung für Anke war, sie auf diese Schulung zu schicken, wofür sie ihm heute noch unausgesprochen dankte. Denn nach seiner Pensionierung hatten sich für Anke sämtliche Möglichkeiten der Weiterbildung erschwert.
»Wir wissen noch gar nicht, ob es ein Fall für unsere Abteilung ist«, lenkte Anke ab. »Warum jetzt schon den Kopf zerbrechen?«
Lisa wurde es zu langweilig. Mit lautem Kreischen ging sie auf ihre Mutter zu. »Ich will reiten!«, stellte sie unmissverständlich klar.
»Wir fahren sofort los«, besänftigte Anke ihre Tochter.
Kullmann erhob sich, was Anke mit einem erstaunten Blick registrierte.
»Martha und ich fahren mit«, erklärte er. »Ich will mir gern die Fundstelle ansehen. In der Zwischenzeit kann Martha bei Lisa bleiben und nach den Pferden sehen.«
»Solange Lisa auf Rondo reitet, bleibe ich aber dabei«, bestimmte Anke.
Kullmann verschwand im Haus. Es dauerte nicht lange, da kehrten er und seine Frau mit wetterfesten Schuhen und Windjacken zurück.
»Wir können.«
»Wir fahren mit meinem Auto«, bestimmte Anke. »Am Stall herrschen Schlamm und Dreck. Mein Subaru Forester ist für unwegsames Gelände bestens geeignet.«
Sie bogen in die Saarbrücker Straße ein, die an der Polizeidienststelle Saarbrücken-Land vorbeiführte, passierten die Halberger Hütte und fuhren unter der Autobahnbrücke durch. Dahinter lagen die Dörfer Fechingen und Eschringen, die sie hinter sich ließen, bis eine Häuseransammlung wie zu einer Zitadelle aufgerichtet vor ihren Augen auftauchte, der Ort Ormesheim.
Kurz davor bogen sie rechts ab. Die Straße war von beiden Seiten mit Feldern und Wiesen gesäumt. Es ging steil bergauf. Oben auf dem Berg boten sich ihren Augen riesige Koppeln voller Pferde. Inmitten der schönen Natur stand ein Reitstall, der aus mehreren Gebäuden in unterschiedlichen Baustilen und einer großen Reithalle bestand. Ein Reitplatz, auf dem sich Reiter mit ihren Pferden abmühten, flankierte die stark befahrene Straße.
Anke bog rechts ab, passierte den großen Platz und rollte langsam auf die Stallgebäude zu. Dicht an die Stallmauer grenzte ein kleiner, viereckiger Sandplatz an. Davor stellte Anke ihren Subaru ab.
Sie steuerten den Stalltrakt an, der sich von den anderen Gebäudeteilen darin unterschied, dass er neu aussah. Durch das offene Tor erblickten sie einen langen, breiten Gang. Alles wirkte wie leer gefegt. Zielstrebig ging Anke auf Rondos Box zu.
Kullmann und Martha erschraken über die Größe des Pferdes. Nur Lisa war begeistert. Ihr Eifer war so groß, dass Anke alle Hände voll damit zu tun hatte, sie von Rondo fernzuhalten, während sie ihn sattelte. Rondo beugte seinen langen Hals hinunter und schaute sich Lisa genauer an. Sein prüfender Blick wirkte dabei so lustig, dass Lisa laut lachte. Anke hielt ihre Tochter an, leise zu sein, aber Lisa war zu aufgeregt, um noch auf die Worte ihrer Mutter zu hören. Rondo schien das muntere Geplapper nicht zu stören. Lisa streichelte ihm über die Nase, er ließ sich das gefallen.
Nach der Reitstunde strich Anke mit dem Striegel über Rondos Beine. Da erst sah sie, dass das linke Vorderbein dick angeschwollen war. Erschrocken hielt sie inne. Das fehlte gerade noch! Nun hatte sie seit wenigen Tagen ein eigenes Pferd, schon war es krank. Sofort rief sie den Tierarzt an. Dieser versprach ihr, gegen Abend zu kommen.
Je näher Anke Deister und Norbert Kullmann der Mülldeponie kamen, umso penetranter wurde der Geruch. Schon von weitem sahen sie das Absperrband im Wind flattern. Einige Männer und Frauen arbeiteten mit groben und feinen Sieben.
Dr. Ernst Kehl löste sich aus der Menge und trat auf Anke zu.
»Na, schöne Frau«, begrüßte er sie in einem anzüglichen Tonfall. Anke mahnte sich zur Beherrschung, dass sie ihm nicht etwas Beleidigendes ins Gesicht schleuderte. »Treibt es die Täterin an den Tatort zurück?« Nachdem sein einsames Lachen erstarb, richtete er seinen Blick auf Kullmann.
»Ach! Der Herr Hauptkommissar a.D. kommt höchstpersönlich«, begrüßte er Kullmann. »Dass Sie noch Zeit haben, sich um Ihre ehemalige Arbeit zu kümmern?«
»Was soll die Bemerkung?« Kullmann reagierte gereizt.
»Sie sind Ehemann, Vater und Großvater gleichzeitig geworden.« Dr. Kehl grinste anzüglich. »So etwas entgeht uns nicht.«
»Schön, dass ich noch im Gespräch bin«, konterte Kullmann, »trotzdem möchte ich gern erfahren, ob Sie schon die Identität des Opfers feststellen können.«
»Sie wissen sicherlich, dass ich Ihnen keine Auskunft über einen laufenden Fall geben darf«, erklärte Dr. Kehl gewichtig. »Aber unserer schönen Kollegin kann ich schon mal mitteilen, dass der Archäologe und ich das Skelett in den Abendstunden untersuchen werden. Wir haben bis jetzt den Fundort weiträumig gesiebt. Sämtliche Fundstücke nehmen wir mit ins Labor.«
Anke wich einen Schritt zurück, weil Dr. Kehl immer näher an sie herantrat.
»Kommen Sie mich heute Abend besuchen, wenn ich mit der Arbeit fertig bin.«
Anke traute ihren Ohren nicht.
Einige Mitarbeiter traten in ihren Schutzanzügen auf Dr. Kehl zu. »Wir haben alles gesichert. Können wir die Absperrung aufheben?«
Dr. Kehl nickte, ohne dabei Anke aus den Augen zu lassen.
»Wann können Sie mehr über das Skelett sagen?«, schaltete sich Kullmann ein, um die Anspannung zu entschärfen. Geschickt schob er Anke zur Seite, damit Dr. Kehl ihn anschauen musste.
»Das kommt darauf an, ob Spuren vorhanden sind«, antwortete Dr. Kehl unfreundlich.
»Was haben Sie denn gefunden?«
»Das Skelett war weit verstreut. Zum Glück haben wir alle Teile gefunden, um es komplett zusammenzusetzen. Außerdem lagen Stofffetzen in der Umgebung. Vermutlich gehören sie zu der Kleidung, die er oder sie getragen hatte. Dazu eine Gürtelschnalle und ein Schlüssel. Die Zugehörigkeit müssen die Kollegen der Spurensicherung feststellen.«
Dr. Kehl machte eine schnelle Drehung. Wieder stand er ganz dicht vor Anke. Während er den Blick über Ankes Körper hinunterwandern ließ, sprach er weiter: »Das Interessanteste kommt aber noch!«
»Und das wäre?«, fragte Kullmann.
»Ich frage mich, mit wem ich hier spreche«, wurde Kehl plötzlich unhöflich. »Mit der diensthabenden Beamtin oder einem Rentner, der hier nichts verloren hat?«
Anke verschlug es fast die Sprache. Bei dem Gedanken, in dem Fall eng mit Dr. Kehl zusammenarbeiten zu müssen, wurde ihr übel.
»Nicht in dem Ton«, entgegnete sie bestimmter, als ihr zumute war, »Kullmann ist weiterhin beratend für die Polizei tätig. Also geben Sie uns die nötigen Informationen oder wollen Sie unsere Arbeit behindern?«
Dr. Kehl war verdutzt. Eine Weile schaute er Anke an, wobei er den Kopf senkte, um besser über den Rand seiner Brille sehen zu können.
»An jedem Gerücht ist ein Fünkchen Wahrheit«, bemerkte er zusammenhanglos.
Anke und Kullmann schauten sich staunend an.
»Weiß Ihre erst kürzlich Angetraute, was Sie ihr damit antun?« Dr. Kehl richtete seine Frage an Kullmann.
Anke wurde es ganz heiß vor Zorn. Was ging hier vor? Welche Absicht hegte Dr. Kehl mit seinen boshaften Unterstellungen.
»Sie dürfen nicht von sich auf andere schließen. Warum Ihre Frau Sie verlassen hat, ist schon lange kein Geheimnis mehr«, sprach Kullmann betont gelassen. »Leider bekomme ich den Eindruck, dass Ihre privaten Entgleisungen sich auf Ihr Urteilsvermögen im Gebiet der forensischen Anthropologie auswirken. Das ist schade, denn das müssen wir melden, damit ein fähiger Mann auf den Posten kommt.«
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