Beruflich hatte er nichts aus seinem Leben gemacht.
Solange seine Eltern – seine Pflegeeltern – gelebt hatten, brauchte er das nicht. Das Ehepaar war steinreich, sie konnten ihm jeden Wunsch erfüllen. Es war für ihn nie nötig geworden, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Sein Vater war über mehrere Legislaturperioden Kultusminister und seine Mutter Dozentin für Chemie an der Universität in Saarbrücken. Es grenzte an Wunder, dass sie Ingo trotz seiner Untätigkeit immer hoch geschätzt hatten. Womit hatte er sich ihre Bewunderung verdient?
Inzwischen waren seine Pflegeeltern gestorben – und mit ihnen das erhebende Gefühl, etwas Besonderes zu sein.
Heute überkam ihn der Eindruck, dass sein Werdegang mehr Ähnlichkeit mit dem eines verhinderten Künstlers, oder besser gesagt eines Lebenskünstlers, besaß als mit dem eines angehenden Buchautors. Von Kindesbeinen an gehörte das Basteln von schönen Spielzeugautos zu seinen Leidenschaften, bis er erkennen musste, dass er kein einziges Modell fertiggestellt hatte. Er hatte keine Motivation, keine Ideen. Er konnte sich nie auf das Ganze konzentrieren. Etwas niederzuschreiben war nicht schlecht. Aber trotz seiner vielfältigen Überlegungen sah er das unüberwindliche Hindernis darin, es bis zum Ende zu bringen. Wie beim Basteln von Autos waren es die Details, die ihn im Sumpf der Engstirnigkeit versinken lassen würden, während ihm das eigentliche Konzept entglitt. Wie sollte er es schaffen, ein komplettes Buch zu schreiben?
Er wollte ehrlich zu seinem Freund sein, das war er ihm schuldig. Matthias hatte eine falsche Meinung von ihm, hielt ihn in der Kunst des Schreibens für begnadet, eine Haltung, die Ingo nicht gerne korrigierte. Sie behagte ihm – wie alles, was ihn auf das Podest stellte, auf das er eigentlich nicht gehörte.
»Nein, habe ich nicht«, kam es Ingo über die Lippen, als hätten sie ein Eigenleben. Gerade noch hatte er einen vernünftigen Gedanken, wenn er auch einem Gang nach Canossa glich, nämlich ehrlich zu seinem Freund zu sein. Welcher Teufel ritt ihn, sich auf dieses gewagte Spiel einzulassen?
»Nur, was soll ich schreiben?« Mit der Frage gab er seine Bedenken preis.
»Ganz einfach: Wir lesen das Buch von Sibylle Kriebig, entnehmen die Ideen, verändern sie ein wenig, indem wir die Männer an die Macht lassen und schon ist ein fantastischer Krimi fertig«, erklärte Matthias. »Und du wirst sehen, dass dein Buch sich besser verkaufen wird.«
»Warum?«
»Weil du mich hast.«
Ingo warf seinem Freund einen ungläubigen Blick zu.
»Also«, drängte Matthias. »Was hält dich davon ab? Schreib dein Buch und du wirst sehen, die Medien machen einen großen Erfolg daraus.«
»Du bist dir aber ganz schön sicher.«
»Natürlich bin ich das! Ich habe mir alles gut überlegt«, gestand Matthias. »Ein Buch von einer namenlosen Autorin wird sich auf dem Markt nicht behaupten.«
»Trotzdem kommt die Idee von ihr und nicht von mir«, zweifelte Ingo immer noch.
»Wen interessiert das? Bestseller werden nicht geschrieben, sondern von den Medien gemacht!«
»Also, wenn ich mir deinen Plan anhöre, gelange ich zu der Überzeugung, dass besser du das Buch schreibst. Du steckst voller Ideen – im Gegensatz zu mir.«
»So ein Unsinn«, wehrte Matthias ab. »Ich kann keine drei Sätze fehlerfrei schreiben. Du bist in Deutsch richtig gut, hast schon in der Schule die besten Noten bekommen. Also musst du das Buch schreiben.«
Sie verließen die Autobahn an der Abfahrt am Flughafen Ensheim, fuhren weiter über die Landstraße in Richtung Ormesheim.
Kurz bevor sie den Ort erreichten, traf Ingo seine Entscheidung: »Du hast Recht. Wir werden das Buch schreiben.«
»Klasse, Kumpel! Hand drauf!«, jubelte Matthias.
Ingo parkte seinen Jaguar vor dem Elternhaus. Feierlich schlug er mit seinem Freund auf ihre Abmachung ein. Dabei fühlte er sich wieder wie der kleine Junge, der einen Streich ausheckte.
»Das Geld teilen wir«, stellte Matthias klar und setzte damit dem Freudentaumel ein Ende.
»Wenn wir welches verdienen«, gab Ingo zu bedenken.
»Wir werden immer Mittel und Wege finden, den Verkauf anzukurbeln.«
Abwechselnd tauchten vor Ankes Augen Bilder vom Gesicht ihrer Tochter und einem kahlen Schädel auf, dessen untere Kieferpartie fehlte. Die helle, muntere Stimme, die sie hörte, passte ganz und gar nicht zu dem Totenkopf ohne Mund. Aber die Stimme war da. Lange wusste sie nicht, was sie ihr sagen wollte. Bis sie plötzlich die Worte klar und deutlich verstand: »Mama, aufstehen! Ich will reiten. Du hast es mir versprochen.«
Erschrocken richtete sich Anke auf. Traum und Wirklichkeit hatten sich vermischt. Vor ihr stand Lisa mit ihrem hübschen, runden Gesicht und den strahlend blauen Augen, die große Erwartungen ausdrückten.
Als Anke aufstehen wollte, schoss ihr ein stechender Schmerz durch den Kopf. Für einen kurzen Moment sah sie nur Sterne. Erschrocken ließ sie sich ins Kissen sinken. Aber Lisa war fest entschlossen, ihre Mutter an ihr Versprechen zu erinnern. Es blieb Anke keine andere Wahl, sie musste raus aus den Federn.
Der zweite Versuch gelang wesentlich besser. Obwohl der Schmerz wie ein dumpfes Pochen in den Schläfen zurückblieb, gelang es ihr, sich bis ins Badezimmer zu bewegen, wo sie ihrem Kreislauf mit kaltem Wasser auf die Sprünge half. In der Küche suchte sie alles zusammen, was zu einem guten Frühstück gehörte. An diesem Morgen war es Lisa allerdings egal, was auf dem Tisch stand. Ihr ganzes Interesse war, so schnell wie möglich zum Pferd zu kommen.
Anke versorgte sich mit einer großen Portion Kaffee, die ihr dabei half, die Kopfschmerzen zu lindern. Die waren wohl das Resultat ihres Sturzes. Zum Glück war es nichts Schlimmeres, dachte sie bei der Erinnerung an das rasante Tempo, mit dem Rondo über den steinigen Weg galoppiert war.
Nach dem Frühstück gingen sie durch den Hinterausgang über den schmalen Pfad in Kullmanns Garten. Das Ehepaar saß dort auf der Terrasse. Sie frühstückten im Schein der Morgensonne, ein harmonisches Bild. Wie immer stellte Anke fest, welch ein wunderbares Paar die beiden waren. Erst als Anke näher kam, sah sie, dass Norbert Kullmann die Zeitung in der Hand hielt. Sie setzte sich auf den Stuhl neben ihm.
Kullmann las ihr vor:
»Mord in der Biosphäre. Der Plan, den Bliesgau als Biosphärenreservat anzuerkennen, wird auf eine harte Probe gestellt. Wie passt ein Toter in ein umweltfreundliches Konzept? Das Skelett im Koppelwald bei Ormesheim wirft viele Fragen auf. Während die Polizei hinter den menschlichen Überresten einen unaufgeklärten Mordfall vermutet, gehen Archäologen von einem jahrtausendealten Fossil der Keltenzeit aus.«
Kullmann schaute Anke über seine Brillengläser hinweg an, während er sprach: »Die Reporter schreiben hier viel dummes Zeug. Ein Toter, der bis zum Skelett verwest ist, ist schon lange tot. Also fällt der Todeszeitpunkt vermutlich nicht in den Zeitraum, in dem die Biosphäre im Saarland schon in Planung ist. Ich sehe da keine Zusammenhänge.«
»Wie lange plant der Bliesgau schon die Anerkennung als Biosphärenreservat?«
»Ich weiß nur, dass sie sich erst in diesem Sommer aus mehreren Kommunen zusammengeschlossen haben, um einen Zweckverband zu gründen, der die hohen Anforderungen erfüllen soll.«
»Und wie lange liegt der Fall zurück, den du ungeklärt zurückgelassen hast?«, fragte Anke.
»Von wegen ungeklärt zurückgelassen! Der Fall wurde mir entzogen, weil wir ohne Leiche nichts hatten, womit wir arbeiten konnten.«
Anke wartete eine Weile, bis sie ihre Frage wiederholte: »Wie lange liegt der Fall zurück?«
»Fünf Jahre. Und ich kann mich nicht erinnern, dass damals schon die Rede davon war, im Saarland eine Biosphärenregion einzurichten.«
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