Damit hatte Kullmann Dr. Kehl den Wind aus den Segeln genommen. Eisiges Schweigen herrschte auf dem Waldweg. Die goldenen Laubbäume rauschten im Wind, einzelne Blätter fielen herab, was den Eindruck vermittelte, es regnete Gold. Das alles nahm Anke nur am Rande wahr. Die beiden Alten standen sich mit einer Feindseligkeit gegenüber, die ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte. Dabei vertraute sie auf Kullmanns Überlegenheit, die ihm schon aus vielen brisanten Situationen herausgeholfen hatte.
Sie lag mit ihrer Vermutung richtig, denn schon bald lenkte Dr. Kehl ein, indem er die Frage beantwortete, die Kullmann schon vor einiger Zeit gestellt hatte: »Wir haben einen Backenzahn in einem erstaunlich guten Zustand gefunden. Es ist möglich, dass sich daran eine DNA feststellen lässt.«
»Das ist doch ein Anfang.« Kullmann nickte zufrieden. »Ist damit die Vermutung, dass es sich um einen Toten aus der Keltenzeit handelt, entkräftet?«
»Es sieht alles danach aus.«
»Was können Sie aus der DNA entnehmen?«, fragte Kullmann weiter.
»Ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt«, antwortete Dr. Kehl. »Aber die Identität des Toten ist nur dann zweifelsfrei festzustellen, wenn wir eine Gegenprobe zum Vergleich haben.«
»Na, das hört sich für mich so an, als würde die Mordkommission nicht um den Fall herumkommen. Um die Gegenprobe werde ich mich kümmern.«
Schritte schallten durch die dunkle Stallgasse. Anke erschrak. Sie griff instinktiv an ihre Seite, aber da war keine Waffe. Schließlich war sie privat unterwegs.
Die Schritte näherten sich.
Anke stellte sich in die Ecke von Rondos Box und verharrte. Sie kamen näher und näher und näher, bis sie direkt vor der Boxentür endeten. Da erst erkannte sie ihn: Es war der Tierarzt. Der Mann, auf den sie wartete, seit Kullmann mit Martha und Lisa nach Hause gefahren war.
Insgeheim ärgerte sie sich über sich selbst, dass sie so ängstlich reagierte. Das könnte in ihrem Beruf hinderlich sein. Der Tierarzt bemerkte nichts von Ankes innerer Zerrissenheit. Er untersuchte Rondo.
Millimeter für Millimeter tastete er das verletzte Bein ab, bis er zu einer Diagnose kam. Er erklärte, die Sehne sei geprellt. Das Bein müsse täglich mit Salbe versorgt und frisch verbunden werden.
Anke ahnte, dass sie bei dieser Behandlung gute Fähigkeiten als Krankenpflegerin erwerben, das Reiten jedoch verlernen würde.
Der Tierarzt fuhr davon und ließ eine frustrierte Anke zurück.
Auf dem Paddock versuchte sie, Kullmann anzurufen, weil sie innerhalb der Stallmauern keinen Empfang hatte.
Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Dunkelheit hüllte sie ein. Eine Schleiereule kreischte und zog ihre Bahnen in Richtung Wald. Ankes Blick folgte ihrer Silhouette und landete genau an der Stelle, wo sie das Skelett gefunden hatte – dicht an der Mülldeponie.
Sah sie richtig?
Leuchtete dort etwas auf?
Gebannt starrte sie in die Dunkelheit. Nichts. Sie hatte sich wohl getäuscht. Sie widmete sich wieder ihrem Handy.
Da sah sie es wieder.
Ein winzig kleiner Lichtkegel flackerte auf.
Plötzlich hörte sie ein lautes Scharren.
Erschrocken zuckte sie zusammen.
Es war Rondo, der hinter ihr mit den Hufen über den harten Boden kratzte.
»Rondo«, schimpfte sie leise. »Wie kannst du mich so erschrecken?«
Schnauben ertönte als Antwort. Dabei schlug ihr ein feuchter Luftzug ins Gesicht.
Sie drehte sich um und schaute wieder in die Richtung des Waldes. Deutlich erkannte sie, dass sich aus östlicher Richtung ein Lichtkegel auf den Leichenfundort zu bewegte.
Der Lichtstrahl verschwand.
Konnte Anke ihren Augen noch trauen?
Plötzlich sah sie zwei Lichtquellen. Dann sogar drei!
Was ging dort vor?
Eine Weile verharrte sie, beobachtete die kleinen Lichter, die abwechselnd aufleuchteten und verschwanden, bis sie anhielten. Nun glaubte Anke, sogar vier zu sehen. Dann wiederum drei, dann nur noch eins, bis alles dunkel wurde.
Ihr Handy läutete. Kullmanns Stimme lenkte sie ab. Sofort erzählte sie ihm, was sie sah.
»Soll ich nachsehen, was dort los ist?«
»Um Gottes Willen«, rief Kullmann aufgebracht. »Womöglich handelt es sich bei dem Leichenfund um ein Opfer eines Verbrechens. Es könnte doch sein, dass es tatsächlich den Täter an den Tatort zurückgetrieben hat, nachdem er von dem Leichenfund in der Zeitung gelesen hat. Du darfst nicht hingehen, sonst finden wir dich erst Jahre später wer weiß wo!«
»Schon gut!« Anke erkannte selbst, wie leichtsinnig ihr Vorschlag war. »Mach dir keine Sorgen. Während ich hier auf dich warte, rufe ich die Kollegen meiner Abteilung an. Soll Jürgen entscheiden, was er damit macht.«
»Der Archäologe hat seine Untersuchungen am Skelett abgeschlossen. Die Knochen fallen nicht in seinen Arbeitsbereich, sondern in unseren.« Mit dieser Enthüllung begrüßte Erik seine Kollegin am Montagmorgen.
Sein Tonfall ließ Anke aufhorchen.
»Und was gefällt dir daran nicht?«, fragte sie.
»Ich arbeite nicht gerne mit unkooperativen Leuten zusammen«, rückte Erik mit der Sprache heraus. »Ich verbringe hier das ganze Wochenende mit dem Fall, aber Dr. Kehl ist nicht bereit, mir seine Ergebnisse mitzuteilen.«
»Wem will er sie denn ausrichten?«, fragte Anke schon ahnend, wie die Antwort ausfallen würde.
»Dir. Und zwar nur dir!«
»So ein Idiot. Damit blockiert er nur die Ermittlungen.«
»So ist es. Aber sein Gegenargument lautet, dass unser Toter schon länger tot ist, also bestehe kein Grund zur Eile.«
»Er sagt uns also, wo die Prioritäten liegen?«
»Sieht so aus.«
»Na gut! Wenn das so ist, trinke ich zuerst einen Kaffee.«
Das verstand Erik als Aufforderung. Er stand auf, verließ das Zimmer und kehrte mit einer funkelnagelneuen Thermoskanne zurück.
»Na, wie findest du meine neue Anschaffung?«
»Toll! Was bezweckst du damit?«
»Ganz einfach: Damit will ich den Kaffee heiß halten, ohne dass er auf der Maschine einkocht und nachher ungenießbar wird.«
»In dir steckt ein talentierter Hausmann«, schmunzelte Anke anerkennend. »Solche Kleinigkeiten würden mir nicht einfallen.«
Die Tür wurde hastig aufgerissen.
Bernhard Diez trat ein.
»Anklopfen hat dir wohl keiner auf deiner Psychologieschulung beigebracht«, schimpfte Anke.
»Wir haben eine Besprechung. Das ist jetzt wichtiger«, entgegnete er unfreundlich.
»Laut Dr. Kehl ist unser Unbekannter schon länger tot«, hielt Anke dagegen. »Deine Hast ist also überflüssig.«
»Jürgen will aber jetzt mit uns sprechen. Ich habe das Gefühl, dass ihm Forseti im Nacken sitzt. Deshalb ist es egal, wie lange unser Unbekannter schon tot ist. Also halt hier keine Reden, sondern schwing die Hufe!«
»Das überlass ich den Pferden«, konnte sich Anke nicht verkneifen.
»Immer musst du das letzte Wort haben.« Bernhard warf die Tür zu.
»Was ist mit dem los?«, fragte Erik, der dem Gespräch stumm gelauscht hatte.
»Keine Ahnung!« Anke zuckte mit den Schultern. »Als er noch Streife gefahren ist, war er ein netter Kollege. Seit seiner Beförderung zum Kriminalkommissar benimmt er sich arrogant.«
»Und seit seinem Lehrgang in Kriminalpsychologie ist seine Selbstherrlichkeit nicht mehr zu ertragen«, fügte Erik grimmig an.
Sie betraten den Konferenzraum.
Der Platz von Esther Weis war leer. Sie befand sich auf einer Weiterbildung, was in Anke gemischte Gefühle hervorrief. Sie wusste genau, dass nur diejenigen schneller befördert wurden, die diese Schulung gemacht haben. Esther war Schnurs Schützling – so, wie Anke damals Kullmanns Schützling war. Deshalb ahnte Anke, dass die Kollegin, die nach ihr mit dem Polizeidienst begonnen hatte, vor ihr zur Oberkommissarin befördert würde.
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