„Das ist doch nicht möglich. Ich verstehe nicht, was Sie mir da erzählen, das gibt doch keinen Sinn. Die Schwäbische Alb ist weit weg von Sylt. Sind Sie sicher, dass es sich um Maximilian von Kellberg handelt? Bitte haben Sie Verständnis für meinen Zweifel, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie das in so kurzer Zeit einwandfrei feststellen konnten. Sie haben keinen DNA-Vergleich angefordert. Wenn Maximilian noch die gleichen Shorts trug, muss die Leiche nach so langer Zeit dementsprechend aussehen.“
„Ich bin mir absolut sicher, Herr Steinberger. Wir brauchen keinen DNA-Vergleich. Die Leiche ist in einwandfreiem Zustand. Wir konnten Maximilian von Kellberg nach dem Foto der Vermisstenmeldung eindeutig identifizieren.“
„Wie kann das sein? Was erzählen Sie mir da? Er hat die gleichen Badeshorts an wie zum Zeitpunkt seines Verschwindens und ist quasi unversehrt? Maximilian ist vor über drei Monaten verschwunden. Nein, das kann nicht sein!“
„Wir haben die Untersuchungen noch nicht ganz abgeschlossen. Es kommen heute noch Spezialisten, die sich die Leiche ansehen. Sicher ist nur, dass Maximilian von Kellberg ermordet wurde. Ich würde gerne mit Ihnen, den Hinterbliebenen und natürlich mit den Freunden des Toten sprechen. Dafür würde ich gerne nach Passau fahren.“
„Selbstverständlich, das kann ich verstehen. Melden Sie sich direkt bei mir. Wann möchten Sie kommen?“
„Am besten gleich morgen. Den Eltern muss die Nachricht über den Tod des Sohnes mitgeteilt werden. Sie sagten, dass Sie die Eltern kennen. Wollen Sie mit ihnen sprechen?“
„Ich denke, dass es besser ist, wenn wir das gemeinsam machen. Es gibt bestimmt einige Fragen von Seiten der Eltern, die nur Sie beantworten können.“
„Einverstanden. Könnten Sie die Studienkollegen des Toten bitten, in Ihr Büro zu einer Befragung zu kommen? Günstig wäre morgen Nachmittag.“
„Selbstverständlich, Kollege Schwartz, wird gemacht. Ich muss jetzt erst einmal verdauen, was sie mir eben erzählt haben, das ist einfach unglaublich. Und dabei bin ich mir nicht mal sicher, ob ich auch wirklich alles verstanden habe. Wir können uns morgen nochmals ausführlich darüber unterhalten.“
Albert Steinberger war geschockt und durcheinander. Verständlich, wenn er den Toten persönlich kannte.
Am späten Nachmittag klopfte Christine an Leos Tür und trat ein. Leo und Anna waren sehr gespannt, was sie zu sagen hatte.
„Ich mache es kurz. Meine Kollegen aus Berlin haben meine Theorie bestätigt. Es handelt sich eindeutig um Mord. Der Junge ist in Salzwasser ertrunken, wurde eingefroren und auf der Schwäbischen Alb vor kurzem erst abgelegt. Die Sandanalyse liegt ebenfalls vor. Es handelt sich um Sand der Ost- oder Nordsee, hierin sind sich die Experten nicht sicher. Hier ist der ausführliche Bericht.“
Am nächsten Morgen machten sich Leo und Anna auf den Weg nach Passau. Nach knapp 3 ½ Stunden Fahrt trafen sie sich am Vormittag mit dem Kollegen Albert Steinberger in dessen Büro. Der Endfünfziger sah genau so aus, wie Leo vermutet hatte. Korpulent, 1,65 Meter groß und unscheinbar. Mit seinen hektischen, kleinen Augen hatte Steinberger seine Umgebung im Blick. Nach einer kurzen Begrüßung übergab Leo den Bericht der Pathologie an den Passauer Kollegen, der diesen ausführlich studierte.
„O mein Gott,“ sagte er schließlich, als er geendet hatte. „Das ist doch der blanke Wahnsinn! Wie soll ich das den Eltern beibringen? Wir kennen uns seit der Studienzeit, ich habe den Jungen aufwachsen sehen.“
„Welche Ermittlungsergebnisse haben Sie bisher in dem Fall Maximilian von Kellberg?“
„Bitte sehr, Sie können selbstverständlich Einsicht in die Akte nehmen.“ Steinberger nahm eine dünne Mappe aus der obersten Schublade seines Schreibtisches und übergab sie Leo. Außer wenigen Zeugenaussagen beinhaltete die Akte keine weiteren Informationen. Schade.
Nachdem sich Steinberger nochmals den Pathologiebericht durchgesehen hatte und er sich ausführlich berichten ließ, wie man Maximilian von Kellberg gefunden hatte, fuhren sie gemeinsam zu den Eltern, was keinem leicht fiel. Das Überbringen von Todesnachrichten an Angehörige war die schlimmste und unbeliebteste Polizeiarbeit. Vor allem, wenn es sich um einen so komplizierten Fall wie diesen hier handelt. Wie würden die Eltern reagieren? Welche Fragen kamen auf sie zu?
Die Stimmung in Leos Wagen war sehr gedrückt, keiner sprach ein Wort. Leo legte sich in Gedanken die Worte zurecht, die er den Eheleuten von Kellberg wohl sagen würde, und ging davon aus, dass es seinen Kollegen genauso ging. Um sich abzulenken, dachte Leo an den Inhalt der Unterlagen, die ihm Steinberger vorhin gegeben hatte. Die Zeugenaussagen sagten alle dasselbe aus: Keiner wusste etwas und keiner hatte etwas gesehen. Maximilians Hotelzimmer war durchsucht worden und brachte keinen Hinweis über den Verbleib des Vermissten. Die Verbindungsdaten des Handys wurden überprüft und stellten keinerlei Auffälligkeiten dar. Maximilians Handy war verschwunden und man versuchte, das Handy über mehrere Wochen zu orten, was aber zu keinem Ergebnis führte.
Leo, Anna und Steinberger fuhren durch eine sehr schöne Wohngegend mit riesigen, teuren Häusern, die vor vielen Jahren errichtet wurden. Leo liebte diese Häuser, die mehr und mehr modernen Häusern weichen mussten. Damals hatte man sich noch mit den Fassaden sehr viel Mühe gegeben. Heute baute man in Leos Augen einfach Betonklötze ohne jeglichen Charme.
Sie schienen an ihrem Ziel angekommen. Sie passierten ein schmiedeeisernes Tor, das offen stand. Auf einer von Tannen gesäumten, gekiesten Auffahrt fuhren sie bis zu einem riesigen, prunkvollen Haus, vor dem zwei sehr edle Autos standen. Die riesige Garage stand offen und gab den Blick auf weitere Fahrzeuge frei, von denen Leo viele nur aus dem Katalog kannte.
„Donnerwetter,“ sagte Anna, „schau dir diesen schwarzen Sportwagen an. Ein Traum.“
„Die von Kellbergs sind eine alt eingesessene Passauer Familie. Sie besitzen hier sehr viele Immobilien und noch mehr Grund. Johannes von Kellberg ist Arzt mit einer eigenen Praxis.“
„Was für ein Arzt?“, wollte Anna wissen.
„Schönheitschirurg,“ sagte Steinberger knapp. Anna und Leo sahen sich an und nickten. Ihnen war klar, dass man damit ein Vermögen verdienen konnte.
Sie klingelten und ein älterer Herr öffnete die Tür. „Guten Tag. Treten Sie ein, die Herrschaften erwarten Sie.“
„Danke Willi,“ sagte Steinberger.
Sie traten in ein großzügiges, sehr gemütlich eingerichtetes Zimmer, in dem die Eheleute von Kellberg auf einer cremefarbenen Couch vor einem riesigen Kamin saßen.
„Das sind Herr und Frau von Kellberg und das sind Herr Schwartz und seine Kollegin Frau Ravelli von der Kriminalpolizei Ulm,“ stellte Steinberger vor. Sie gaben sich die Hand und alle setzten sich in die großzügige Sitzgruppe.
Johannes von Kellberg war 52 Jahre alt, groß und sehr schlank. Er hatte kurze, braune Haare, einen energischen Mund und schöne blaue Augen, die alles und jeden unaufhörlich musterten. Er strahlte schon allein durch sein Äußeres eine gewisse Überheblichkeit aus, die Leo als sehr arrogant empfand. Frau von Kellberg dagegen war sehr anmutig und man konnte schon dadurch erkennen, wie sie auf dem Sofa saß, dass sie eine sehr gute Erziehung genossen haben musste. Leo hatte noch nie jemanden gesehen, der so aufrecht saß wie sie. Mit ihren 47 Jahren und den schulterlangen blonden Haaren, in denen Leo einige graue Haare entdeckte, war sie zwar keine Schönheit. Aber sie strahlte etwas aus, das er sehr mochte und ihm auf Anhieb sympathisch war. Im Laufe der Jahre hatte er eine Menschenkenntnis entwickelt, auf die er sich fast immer verlassen konnte. Manchmal ertappte er sich dabei, dass er Menschen abschätzte und sofort beurteilte, ob sie ihm sympathisch waren oder nicht, was eine dumme Angewohnheit von ihm war.
Читать дальше