Leo ging langsam auf die Person zu und erkannte eine junge Frau Anfang 30, die mit weit aufgerissenen Augen vor sich auf den Boden starrte. Sie war sichtlich geschockt, denn sie zitterte am ganzen Körper und schien die Hitze und auch ihn nicht wahrzunehmen. Er machte sich bemerkbar, rief ihr schon von weitem zu, um sie nicht zu erschrecken. Sie reagierte nicht und starrte nur auf einen Punkt vor sich auf den Boden. Als er die Frau endlich erreicht hatte, begriff Leo die Panik der Frau. Auf dem Boden lag die Leiche eines jungen Mannes, die nur mit Badeshorts bekleidet war. Mitten auf der Schwäbischen Alb! Bevor sich Leo um die Frau kümmerte, nahm er sein Handy aus der Tasche und rief seine Kollegin Anna Ravelli an.
„Hallo Anna, hier Leo. Ich bin auf der Schwäbischen Alb auf eine männliche Leiche gestoßen. Bitte informiere die anderen. Die Leiche liegt in unwegsamem Gelände und ich schlage vor, dass wir uns treffen und ich euch herführe.“ Leo dachte angestrengt nach, wo sie sich treffen konnten. Das war ein riesiges Gebiet und Anna kannte sich hier nicht aus. „Kannst du dich erinnern, wo wir letztes Jahr parkten, als wir mit Christine und Stefan hier waren?“ Inständig betete er, dass sie sich daran erinnerte, welchen Parkplatz er meinte.
„Mach dir keine Sorgen, den Parkplatz finde ich schon,“ sagte Anna.
„Gut. Wenn du doch Probleme hast, frag Stefan oder Christine, die beiden waren schon oft hier. Ich gehe jetzt los und wir treffen uns dort. Wir brauchen einen Krankenwagen. Eine junge Frau hat die Leiche gefunden und ist ziemlich geschockt. Ich werde versuchen, sie zu beruhigen. Vielleicht kann ich sie dazu überreden, mich zu begleiten. Bis gleich.“ Leo hatte aufgelegt und keine Antwort abgewartet. Anna wusste, was zu tun war.
Die junge Frau stand immer noch reglos da und starrte auf die Leiche.
„Mein Name ist Leo Schwartz,“ begann er mit ruhiger Stimme, „ich bin Polizist. Hier ist mein Ausweis.“ Er hielt ihr seinen Ausweis direkt vors Gesicht. Jetzt drehte sie leicht den Kopf und nickte kaum merklich.
„Wie ist ihr Name?“, fragte Leo ruhig weiter.
Die junge Frau musste sich konzentrieren. Sie war so geschockt, dass ihr auf Anhieb nicht einmal ihr Name einfiel. Leo wiederholte geduldig mehrmals seine Frage.
„Mandy,“ flüsterte sie endlich und Leo musste sich anstrengen, sie zu verstehen. „Mandy Singer.“ Ihr sächsischer Dialekt war deutlich zu hören.
„Hallo Mandy. Ich schlage vor, wir gehen in den Schatten. Sie setzen sich erst einmal und trinken einen Schluck Wasser.“
Mandy Singer folgte ihm langsam. Sie schüttelte den Kopf, als sie die Wasserflasche wahrnahm, die Leo ihr an dem schattigen Platz reichte. „Danke,“ sagte sie nur und entnahm ihrem Rucksack eine Dose Bier. Sie trank den Inhalt in einem Zug, wobei sie die Dose mit beiden Händen halten musste.
Leo war erleichtert. Sie reagierte und wenn er es schaffte, sie weiter abzulenken, hatte er gute Chancen, dass er sie mitnehmen konnte. Er wollte sie nur ungern hier lassen. Sie saßen auf einem Stein im Schatten und Mandy beruhigte sich langsam, denn ihr Atem war nun ruhiger und gleichmäßiger und ihr leichenblasses Gesicht bekam wieder Farbe. Leo hatte darauf geachtet, dass sie sich mit dem Rücken zur Leiche setzte.
„Geht es Ihnen besser?“ Leo beobachtete sie genau, da er einschätzen musste, ob sie einen Fußmarsch durchhalten würde. Körperlich war sie zumindest in sehr guter Form.
„Es geht wieder,“ sagte Mandy jetzt etwas gefasster. „Ich weiß, ich benehme mich wie ein Kleinkind, aber ich habe noch nie eine echte Leiche gesehen.“
„Nein, nein, reden Sie sich nichts ein, diese Reaktion ist völlig okay. Ich habe schon riesige Kerle gesehen, die bei einem solchen Anblick sofort aus den Latschen gekippt sind. Nein, Sie verhalten sich sehr tapfer, das können Sie mir glauben.“
Jetzt lächelte sie sogar ein wenig und Leo fiel ein Stein vom Herzen. Er war sich sicher, dass sie es schaffen würde, mit ihm zu kommen. Vor allem, nachdem sie eine weitere Dose Bier aus dem Rucksack fischte und auch diese fast in einem Zug leerte.
„Ich habe meine Kollegen angerufen, die ich auf einem Parkplatz treffe, um sie herzuführen“, sagte Leo. „Ich möchte gerne, dass Sie mit mir gehen. Wir haben eine anstrengende Strecke vor uns. Meinen Sie, Sie schaffen das?“
Mandy überlegte nicht lange.
„Keine Sorge, das schaffe ich schon. Ich gehe auf jeden Fall mit Ihnen, ich bleibe nicht hier bei dem da,“ sagte sie bestimmt, drehte sich um und zeigte auf die Leiche.
„Sehr schön Mandy. Möchten Sie sich noch ausruhen oder können wir los?“
„Je eher, desto besser.“ Mandy war bereits aufgestanden.
Die beiden gingen schweigend nebeneinander her. Leo dachte über die Leiche nach. Warum hatte der Mann inmitten der Schwäbischen Alb nur Badeshorts an? Er wusste genau, dass hier weit und breit keinerlei Gewässer waren. Weder ein See, noch ein Fluss oder dergleichen. Der Mann passte hier absolut nicht in die Gegend. Was sollte das? Seine Neugier war geweckt und er musste unbedingt herausfinden, was dahintersteckte. Vor allem wollte er sich die Leiche genauer ansehen, was aber mit Mandy an seiner Seite nicht ging. Er musste warten, bis er mit seinen Kollegen zurück war.
Leo bemühte sich, eine belanglose Unterhaltung mit Mandy zu führen. Sie sprachen übers Wetter, die Natur, über Kinofilme. Und Leo war sehr zufrieden, wie sich Mandy verhielt. Sie kamen zügig voran und nach einer guten halben Stunde hatten die beiden den Parkplatz erreicht, wo die Kollegen bereits warteten.
Die Kollegin Anna Ravelli sah sie zuerst und kam auf sie zu. Sie drückte beiden ein kaltes Getränk in die Hand, was Mandy und Leo gerne annahmen. Leo arbeitete seit fast zwei Jahren mit Anna zusammen und schätzte sie sehr. Mit ihren 28 Jahren machte sie ihren Job sehr gut und war bei den Kollegen sehr beliebt. Außerdem sah sie dazu auch noch blendend aus. Sie war 1,75 m groß und trug wegen der Hitze ihre langen, schwarzen, lockigen Haare hochgesteckt, was ihren Nacken mit dem kleinen Tattoo freilegte.
„Du ruhst dich aus, Leo. Wir beide gehen zum Krankenwagen,“ sagte Anna bestimmt und zog Mandy Singer mit sich. Sie sprach kurz mit ihr und dem Sanitäter und kam gleich darauf wieder zurück.
„Was ist das für eine wilde Geschichte, die mir Frau Singer eben erzählt hat? Der Tote trägt nur Badehosen? Hier auf der Schwäbischen Alb?“
„Ich habe auch gedacht, dass ich spinne. Ich bin gespannt, was das soll.“ Leo trank noch eine Flasche Wasser und wechselte das Hemd mit einem T-Shirt, das ihm ein Kollege reichte. Er war völlig durchgeschwitzt und inzwischen roch er bestimmt auch nicht mehr sehr gut. Aber für Eitelkeiten war jetzt keine Zeit.
„Ich war mir nicht sicher, ob das hier noch unser Zuständigkeitsbereich ist und habe mit unserem neuen Chef gesprochen,“ sagte Anna. Wie würde Leo reagieren? Sie hätte ihn vorher fragen müssen und hatte eigenmächtig gehandelt.
„Jetzt bin ich aber gespannt. Was hat er gesagt?“ Leo war nicht sauer und Anna entspannte sich.
Leo war sich bezüglich der Zuständigkeit auch nicht ganz sicher und hatte die Leiche und die damit verbundenen Ermittlungen einfach zu seinem Fall erklärt. Egal, was Anna nun sagte, die Leiche hier würde er sich nur ungern vor der Nase wegschnappen lassen. Er wollte unbedingt herausfinden, was es mit diesem Toten auf sich hatte, denn dass etwas hier nicht ganz koscher war, konnte er förmlich riechen. Seit einer Mordserie vor zwei Jahren war nicht viel passiert und er wollte diesen Fall hier unbedingt. Er konnte den neuen Vorgesetzten Michael Zeitler noch nicht einschätzen. Er hatte erst einige Male mit ihm gesprochen, wobei es nur um banale Dinge ging. Wie würde Zeitler reagieren, wenn es Probleme gab?
„Zeitler klärt die Sache noch ab, hat uns aber vorerst grünes Licht gegeben,“ antwortete Anna. Leo war beeindruckt und auch erleichtert, denn das Okay vom Chef vereinfachte die Sache enorm.
Читать дальше