1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 »Was glaubst du, wie nützlich du deinen Freunden sein kannst, wenn du selbst völlig traumatisiert bist?«, meinte er, und das hatte es entschieden: Ftonim sah Lys Neoly nicht brennen. Zwei Nächte später dankte er im Stillen der Göttlichen Einheit und seinem Vater dafür, als er in Pektays Bett die ganze grauenvolle Angelegenheit aus erster Hand erzählt bekam und vergebens versuchte, die Tränen seiner Augenweide mit Küssen zu trocknen. Doch in jenen Mnegau hasste es der junge Sar, unnütz im Haus seines Vaters herumzusitzen, während er an nichts anderes denken konnte als an Vairrynn und Myn und Lys und Vairrynn.
Schließlich, nachdem er seine Skenty fast vor Frustration am Stamm seines Unheiligen Baumes zerschmettert hätte, schnappte er sich einen dichtgewebten Umhang und marschierte hinunter an den Strand. Es war erst Anfang der Sturmzeit, doch der Wind fegte schon beißend über das Meer und besprühte ihn mit Gischt. Ftonim empfand die zornige Kälte als belebend und konnte zum ersten Mal an diesem Tag frei durchatmen. Die Kargheit von weißem Sand, schwarzem Stein und grauem Meer-Himmel beruhigte seine Sinne, und eine willkommene Leere breitete sich in seinem Geist aus. Angesichts des Knirschens des Sandes unter seinen Stiefeln und des Dröhnens der Brandung in seinen Ohren erschien das, was gerade in Murraptaam passieren musste, ganz und gar unwirklich und der Flug der Seevögel über dem Wasser als das Wichtigste auf der Welt.
Ftonim sang leise vor sich hin, während er über den Sand stapfte, leichtherzig-schwermütigen Unsinn ohne Zweck und Ziel. Er machte sich nie die Mühe, die Lieder niederzuschreiben, die zu solchen Stunden aus seiner Seele tropften. Sie waren wie der Wind und die Wellen: ewig und augenblickshaft zugleich. Außerdem war er nicht verblendet genug, um zu glauben, dass sie irgendetwas wert seien.
Wie von selbst lenkten ihn seine Schritte zum Küstenhaus Eftnek Neolys. Fest in seinen Umhang gewickelt, stand Ftonim am Fuße der schwarzen Klippe und starrte hinauf zu der beigefarbenen Villa, deren Ostfront gerade so vom Strand aus zu erkennen war. Er mochte dieses Haus, seinen pompösen Dimensionen zum Trotz, denn es zeugte vom erlesenen Geschmack seiner Bewohner. Einst hatte es auch von Wärme und Liebe gezeugt, aber das war lange vorbei und vielleicht immer nur eine Lüge gewesen. Ftonim hatte nichts anderes, um dies zu beurteilen, als die Ansichten seines Vaters über Lys und Eftnek Neoly, und ihm war klar, dass diese alles andere als neutral waren. Ausgerechnet in diesem Moment stellte sich ihm die Frage, ob die Beziehung seines Vaters zu dem Holzsteinschnitzer und dessen Frau eigentlich über die unvermeidliche Verbundenheit der Reichen und Schönen hinausging und ob Túnn Sar wohl Nohaín und Sannáh Sxarram gekannt hatte.
Ftonim runzelte die Stirn ob seiner eigenen verworrenen Gedankengänge und vergaß sie gleich wieder, als er eine wohlvertraute Gestalt die zahllosen Stufen hinunterhetzen sah, die vom Anwesen des Holzsteinschnitzers die Klippe hinunter an den Strand führten. Also waren die Neolys schon wieder zurück. Es war vorbei.
Regungslos beobachtete Ftonim den Klippenläufer und fühlte sich mit einem Mal so leer, dass es schmerzte. Vairrynn bemerkte Ftonim nicht, selbst als er am Fuß der Klippe angekommen war, hetzte nur weiter über den Strand, als wären alle Dämonen des Nichtseins hinter ihm her, bis er die Brandung erreichte und auf Knie und Hände fiel. Selbst von dort, wo er stand, konnte Ftonim sehen, dass Vairrynns Körper von Krämpfen geschüttelt wurde, während das Meer um seine Hände und Knie schäumte und die Gischt ihn von oben bis unten durchnässte. Der junge Sar rannte genau in dem Moment los, da sein Freund sich, Gesicht zuerst, fallen ließ. Der nächste Brecher schlug rollend über Vairrynns Kopf zusammen, und Ftonim lief schneller. Das rückläufige Wasser ging ihm bis an die Hüfte, als er meinen Himmelsreiter aus dem Wasser zog, der nicht einmal sonderlich nach Atem rang, während Ftonim ihn ein Stück den Strand hinaufschleppte. Er ließ Vairrynn in den Sand fallen, nur um ihn dann sofort wieder in seine Arme zu ziehen.
»Großer Wy, was machst du denn, Errodd?« Panik und Unglauben verflochten sich in seiner Stimme. Die Hände meines Himmelsreiters krallten sich in Ftonims Oberschenkel, während sich sein Körper aufbäumte. Ftonim biss die Zähne zusammen und hielt Vairrynn so fest, wie er nur konnte. Er hatte mehr Angst als jemals zuvor in seinem Leben. Hilflos strich er seinem Freund das patschnasse Haar aus den Augen und erstarrte. Unnatürlich geweiteten Pupillen und dieser süßlicher Geruch, der in der Nase stach …
Lauthals fluchend zog Ftonim Vairrynn auf die Füße und in Richtung des Wassers, aus dem er ihn gerade erst gerettet hatte. Es war alles andere als einfach, Vairrynn – größer und schwerer als Ftonim und völlig unkoordiniert – wieder ins Wasser zu ziehen, aber Ftonim war nichts, wenn nicht entschlossen. Er schaffte es, dass sie beide in den eisigen Wellen landeten, und dann tauchte er Vairrynns Kopf ein ums andere Mal unter, bis mein Himmelsreiter schließlich zu husten und zu spucken anfing und sich an Ftonim festklammerte wie ein Frn-Baby an seiner Mutter. Der junge Sar selbst fluchte die ganze Zeit über wie ein Weltraumtrödler. Er hatte keine Ahnung, wie und warum – irgendwie hatte er Schwierigkeiten, zu glauben, dass Vairrynn seiner Mutter beim Sterben zusehen würde und hinterher nichts anderes zu tun hatte, als eine Nase voll frischem Kness-Rauch zu nehmen – aber sein Errodd war vollkommen zugedröhnt. Und deswegen hielt Ftonim jetzt ein zitterndes und bebendes und, nicht zu vergessen, patschnasses Bündel im Arm, das entweder versuchte, die Tränen zurückzuwürgen, die ihm nichtsdestotrotz übers Gesicht liefen, oder ernsthaft in Erwägung zog, seinen Mageninhalt loszuwerden.
»Untersteh dich, Vairrynn Sxarram Neoly!«, keuchte Ftonim, als er auf dem ansatzweise trockenen Sand zusammenbrach, Vairrynn halb über ihm liegend. Er schüttelte seinen Freund ein wenig wie die Katze ihr Junges, erstarrte jedoch, als Vairrynn sein viel zu heißes Gesicht in seiner Brust vergrub.
»Mach, dass es aufhört, Ftom«, murmelte er, und es schnürte Ftonim die Kehle zu. »Sag ihnen, sie sollen aufhören!«
Ftonim schloss die Arme wieder um Vairrynns bebenden Körper und begann, sich und meinen Himmelsreiter hin und her zu wiegen. »Schhh, Errodd, ist ja gut, ist ja gut, schhh.«
Vairrynn schüttelte wild den Kopf in seinen Armen. »Sie sind in meinem Kopf, Ftom, alle, alle, alle! Jeder einzelne … Oh Wy, Ftom, es sind so viele. Mach, dass es aufhört! Geht raus, geht raus, geht raus, geht raus …«
»Schhhh, schhhh, sie sind weg, Errodd. Sie sind jetzt alle weg.«
Doch Vairrynn schüttelte weiter den Kopf, und Ftonim konnte nichts anderes tun als seinen Freund festhalten, während dessen Körper von etwas gebeutelt wurde, von dem Ftonim hoffte, dass es Kness-induzierte Halluzinationen waren. Im Grunde jedoch wusste er es besser. Es drückte Ftonim das Herz ab in der Brust, während unzusammenhängende Worte aus dem Mund meines Himmelsreiters stürzten über die Menge in seinem Kopf, stampfend und dröhnend, und über Wut, Wut, Wut, Wut, Wut, und all der Schmerz, zornig und rot, und qualvolle Freude, unerträglich, und Abgründe, so tief, und Schatten, Schatten, nichts als Schatten, und dann war da Nichts und nein, bitte, bitte, zu viel, zu viel, ich hab nicht genug Platz in mir, ich bin nicht viele, zu weit gespannt, viel zu weit, bitte nicht, nicht mehr, mehr nicht, mehr nicht, mehr nicht, mehr nicht, mehr nicht … An diesem Punkt löste Ftonim mit all der sanften Gewalt, die er aufbringen konnte, Vairrynns Arme von seinem Nacken, umschloss sein Gesicht mit den Händen und blickte ihm fest in die Augen. Vairrynns Pupillen waren immer noch viel zu weit.
»Sie sind weg, Errodd! Sieh mich an, komm schon! Mich! Ich bin hier, niemand sonst. Sieh mich an!«
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