DIE ERSTE TOCHTER
Zukunftsepos von Katharina Maier
Widmung WIDMUNG Für Mama, mit den Sternen in ihrem Geist Für Lisa, mit den Drachen in ihrem Herzen Für Oma, die Myn ihre Stärke gab Diese Welt wäre nicht, was sie ist, ohne euch
Prolog PROLOG Es heißt, ich bin das unausweichliche Ende einer jeden Geschichte, doch diese eine begann mit mir. Sie hat mich hierhergeführt, in diese vielgestaltige Stadt, recht unerwartet, möchte man meinen. Natürlich bin ich immer hier, überall, auch jetzt. Ich streife durch die Stadt, und der whiskeyselige Mann unter der Turmbrücke geht wie zufällig mit mir. Im Operationssaal, wo die Ärzte mit mir ringen wie Jakob einst mit seinem Herrn, ein alter Kampf, den ich mit weit weniger Leidenschaft zu führen pflege als sie, hält mich der Patient unter ihren Messern für einen Tunnel aus Licht. Das tun sie oft. Das großäugige Kind auf dem Rücksitz der Flugmaschine winkt einem Gerippe im schwarzen Mantel zu, das ein wenig aussieht wie sein Großvater. Das Kind lacht mich an. Das tun sie selten. Ich bin hier. Doch schon lange kam ich nicht mehr als die Alte, die Dunkle, die Mutter. Bis jetzt, da eine Frage gestellt wurde, die mich gerufen hat. Draußen vor den verspiegelten Fenstern zerteilt der Fluss gezeitenatmend die Stadt, und drinnen steht die Frage breit und schwer zwischen einem Mann und einer Frau und verlangt nach Antwort. »Sie wollen es wirklich wissen?«, fragt die Frau nach. Schon jetzt sieht sie müde aus. Vielleicht weiß er sogar, was er da von ihr verlangt. Doch gegen die erste Sünde der Menschheit ist auch er nicht gefeit. Die Angst vor den Worten sitzt ihr im Nacken, aber sie kann sich dem Drängen in den fremdartigen Augen nicht verschließen. Draußen singt der große Glockenturm sein immer wiederkehrendes Loblied auf die Zeit. Die beiden hören es nicht. »Bitte«, sagt er, als ihr Schweigen die Überhand zu gewinnen droht. »Erzählen Sie es mir.« Aber wie kann sie das? Sie weiß nicht, wie es begann. Denn am Anfang war der Tod – der Tod und eine plötzliche Anwandlung von Selbstsucht, wie sie mir zugegebenermaßen nicht gebührt. Aber da stand ich, am Anfang, und hielt ein kleines Seelenlicht in meinen Händen. Es war ein junges, unbekümmertes Lichtchen, kaum dem Mutterschoß entsprungen. Manche gehen, bevor sie richtig angekommen sind. Es liegt nicht an mir, dies zu entscheiden, ich lasse es nur geschehen. Doch das Seelenlicht strahlte mich an, warm und silberhell, und ich formte fest und klar das Nein. Ich konnte es nicht gehen lassen. Ich wollte es nicht gehen lassen. Und so schloss ich die Hände um das silberhelle Seelenlicht und beanspruchte es für mich. Dieser hier war mein. Einen Lidschlag nur stockte die Zeit in ihrem Fluss, und das Gewebe dehnte sich, ohne zu reißen. Ohne Chaos keine Ordnung. Jede Regel hat ihre Ausnahme. Selbst diese. Und so hauchte ich mein Seelenlicht zurück, und ein helles graues Augenpaar ging auf und blickte verwundert in die Welt.
Familie
Sturmzeit
Abweichler
Übertritt
Splitter
Kaffee
Verquickungen
Rauch
Vipern
Katastrophe
Wer ist wer
Was ist Was
DIE ERSTE TOCHTER
Impressum
Für Mama, mit den Sternen in ihrem Geist
Für Lisa, mit den Drachen in ihrem Herzen
Für Oma, die Myn ihre Stärke gab
Diese Welt wäre nicht, was sie ist, ohne euch
Es heißt, ich bin das unausweichliche Ende einer jeden Geschichte, doch diese eine begann mit mir. Sie hat mich hierhergeführt, in diese vielgestaltige Stadt, recht unerwartet, möchte man meinen. Natürlich bin ich immer hier, überall, auch jetzt. Ich streife durch die Stadt, und der whiskeyselige Mann unter der Turmbrücke geht wie zufällig mit mir. Im Operationssaal, wo die Ärzte mit mir ringen wie Jakob einst mit seinem Herrn, ein alter Kampf, den ich mit weit weniger Leidenschaft zu führen pflege als sie, hält mich der Patient unter ihren Messern für einen Tunnel aus Licht. Das tun sie oft. Das großäugige Kind auf dem Rücksitz der Flugmaschine winkt einem Gerippe im schwarzen Mantel zu, das ein wenig aussieht wie sein Großvater. Das Kind lacht mich an. Das tun sie selten.
Ich bin hier. Doch schon lange kam ich nicht mehr als die Alte, die Dunkle, die Mutter. Bis jetzt, da eine Frage gestellt wurde, die mich gerufen hat. Draußen vor den verspiegelten Fenstern zerteilt der Fluss gezeitenatmend die Stadt, und drinnen steht die Frage breit und schwer zwischen einem Mann und einer Frau und verlangt nach Antwort.
»Sie wollen es wirklich wissen?«, fragt die Frau nach. Schon jetzt sieht sie müde aus. Vielleicht weiß er sogar, was er da von ihr verlangt. Doch gegen die erste Sünde der Menschheit ist auch er nicht gefeit. Die Angst vor den Worten sitzt ihr im Nacken, aber sie kann sich dem Drängen in den fremdartigen Augen nicht verschließen. Draußen singt der große Glockenturm sein immer wiederkehrendes Loblied auf die Zeit. Die beiden hören es nicht.
»Bitte«, sagt er, als ihr Schweigen die Überhand zu gewinnen droht. »Erzählen Sie es mir.«
Aber wie kann sie das? Sie weiß nicht, wie es begann. Denn am Anfang war der Tod – der Tod und eine plötzliche Anwandlung von Selbstsucht, wie sie mir zugegebenermaßen nicht gebührt. Aber da stand ich, am Anfang, und hielt ein kleines Seelenlicht in meinen Händen. Es war ein junges, unbekümmertes Lichtchen, kaum dem Mutterschoß entsprungen. Manche gehen, bevor sie richtig angekommen sind. Es liegt nicht an mir, dies zu entscheiden, ich lasse es nur geschehen. Doch das Seelenlicht strahlte mich an, warm und silberhell, und ich formte fest und klar das Nein. Ich konnte es nicht gehen lassen. Ich wollte es nicht gehen lassen. Und so schloss ich die Hände um das silberhelle Seelenlicht und beanspruchte es für mich. Dieser hier war mein. Einen Lidschlag nur stockte die Zeit in ihrem Fluss, und das Gewebe dehnte sich, ohne zu reißen. Ohne Chaos keine Ordnung. Jede Regel hat ihre Ausnahme. Selbst diese. Und so hauchte ich mein Seelenlicht zurück, und ein helles graues Augenpaar ging auf und blickte verwundert in die Welt.
An dem Abend, da die Alte in mein Leben trat, las ich ein Buch, obwohl ich eigentlich hätte sticken sollen. Wie so oft im Herbst auf Singis, in der Sturmzeit, wie wir sagen, heulte der Wind um das Haus und ließ die Fensterschilde knistern. Meine Mutter und ich saßen am prasselnden Kamin und gaben ein Tableau gut-singisischer Häuslichkeit, zumindest bis zu dem Moment, da ich kapitulierte und meinen Stickrahmen gegen ein zerlesenes Buch austauschte, voller Legenden über Götter und Geistwesen und solche, die beides waren.
Meine Mutter webte gerade an einem Teppich, auf dem in einem Tanz von Licht und Schatten der Triumph des allmächtigen Wy über den Göttlichen Gegner Form annahm, und tat so, als würde sie meinen kleinen Akt des Ungehorsams nicht bemerken. Auch von meinem Vater drohte mir im Moment keine Rüge. Er saß bei meinen beiden Brüdern an dem schweren, dunklen Holzsteintisch gegenüber dem Kamin und legte gerade letzte Hand an eine zierliche Figurine. Um ihn herum hätte also gerade das Singisische Reich untergehen können, ohne dass er mit der Wimper gezuckt hätte. Die Weigerung seiner Tochter, ihr Geschick in Handarbeiten zu vervollkommnen, wie es sich für ein Mädchen aus gutem Hause gehörte (ganz besonders, wenn es um dieses Geschick derart düster bestellt war wie um das meine), war sicher nicht dazu geeignet, die Aufmerksamkeit meines Vaters von seinem kleinen Kunstwerk abzulenken.
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