Sogar mir war klar, dass das keine Antwort auf Vairrynns Frage war. Mein Bruder starrte Mutter einen Moment lang an, durchdringend, intensiv. Ich kannte diesen Ausdruck; Vairrynn trug ihn immer, wenn er spürte, dass jemand etwas verheimlichte. Der graue Blick wurde dann scharf und irgendwie hart, heller vielleicht, tiefer. Nicht immer angenehm. Selten angenehm.
Mutter wich diesem Blick jetzt aus. Vairrynn sagte nichts. Ich vergrub die Nase in einem meiner Bücher. Schon jetzt begann ich, eine intensive Abneigung gegen den Obersten Priester des Wy zu entwickeln. Alles brachte er durcheinander!
Es dauerte insgesamt eine ganze Lchnatta – eine ganze viertel Jahreszeit also – ehe der Termin für Asnuors Einführungszeremonie feststand. Heiligtümer im ganzen Reich, so ließ der Sprecher des Wytempels dann schließlich verlauten, würden überbordende Feste für die Kinder des Ersterschaffers ausrichten, damit dieser besondere Tag dem Reich lange in Erinnerung blieb. Diese Aussicht allein versöhnte bereits viele, aber es gab immer noch genug, die dem ersten Auftritt Ktorram Asnuors ziemlich skeptisch entgegenblickten. Entgehen lassen wollten sich das Spektakel jedoch die wenigsten. Vater beschloss kurzerhand, der Aufforderung des alten Neoly zu folgen und an dem großen Tag mit seiner Familie nach Murraptaam zu kommen, der altehrwürdigen Hauptstadt des Reiches, wo die Einführungszeremonie stattfinden würde. Mutter weigerte sich rundheraus, ihren Mann zu begleiten. Vater ließ ihr schließlich ihren Willen, und Mutter und ich blieben an dem Tag, an dem die gesamte singisische Bevölkerung auf den Beinen schien, zu Hause. Ein kleines Mädchen wie ich gehöre ohnehin nicht in eine Stadt wie Murraptaam, hatte Vater als offizielle Begründung erklärt, und damit war ein weiteres Mal verhindert, dass ich einen Fuß aus dem geruhsamen Naharmbra setzte.
Ich war mehr als nur ein wenig neidisch auf meine Brüder, die Vater begleiten durften, während es mir beschieden war, das Geschehen auf der Holographischen Wand zu verfolgen. Dagegen wenigstens hatte Mutter nichts. Wir sahen uns die Übertragung der Zeremonie gemeinsam an, Mutter mit zusammengekniffenem Mund und ich genauso gespannt wie der Rest des Reiches auf Ktorram Asnuor, Oberster Priester des Wy und Erster Streiter der Nchrynnai.
Und gespannt waren sie alle. Die Kamera flog über die engen Straßen der Hauptstadt, in denen sich Singisen aus allen Landstrichen und von allen Planeten des Reiches drängten. Die Stadt, geprägt durch hellbraunen Farkenn-Stein, glimmende Glasbauten und himmelstrebende Architektur, ertrank in einem wahren Farbenmeer. Es schien gegen die hohen Häuser zu branden, von denen bunte Banner wallten. Wie von den Winden der Sturmzeit getragen, wirbelte die Kamera über die Türme der Innenstadt, bis sie schließlich auf den Großen Platz hinabtauchte, das Zentrum Murraptaams, das Zentrum von Singis, das Zentrum unseres Reiches, des glorreichen und immerwährenden Memnáh. Ich glaube, wir alle hielten diesen Ort damals für das Zentrum des Universums.
In der Form eines riesigen Oktogons wird der Große Platz eingerahmt von dem vieltürmigen Palast der Berufenen, in dem das Parlament tagt und der Vorsteher des Reiches residiert, von dem Tempel der Göttlichen Einheit mit seinen unzähligen Nischen und Innenhöfen, dem Museum Glorreicher Geschichte und der gewaltigen Bibliothek der Planeten, die, so sagte man, das gesamte Wissen des Memnáh in ihren Mauern barg (und in ihren Datenbanken, aber das klang so unromantisch). Die Kamera ließ sich viel Zeit, die prunkvollen Fassaden abzufahren; wir Nchrynnai kosten jeden Moment ruhmgedenkender Selbstbespiegelung voll aus. Schließlich schwenkte sie über die wartenden Massen hin zum Gründerväterdenkmal vor dem Palast der Berufenen, neben dem eine hohe Tribüne errichtet worden war. Fanfaren begleiteten den Kameraschwenk, »Perfekte Regie«, kommentierte meine Mutter, und die gigantischen Flügeltüren des Palastes öffneten sich.
Heraus trat eine Prozession von Priestern in hellgrünen, goldgesäumten Roben, in deren Mitte ein Mann schritt, der in unauffälliges Dunkelgrün gekleidet war. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Einen Patriarchen mit wallendem Silberbart und der Imposanz meines Großvaters. Einen hünenhaften Recken wie die Manifestation von Wy selbst. Oder eine unheimlich-düstere Erscheinung, die mir Mutters Entsetzen auf den ersten Blick erklären würde. Der Mann in Dunkelgrün aber war nichts dergleichen. Er war weder groß noch klein, weder kräftig noch schlank, weder alt noch jung. Er war der unbeachtlichste Mann, den ich je gesehen hatte, aschenfarbenes Haar, aschenfarbener Bart, farblose Augen, die ein wenig zu schräg waren, aber nicht genug, um ungewöhnlich zu wirken. In der Tat war sein Gesicht so bar jeglichen interessanten Zuges, dass es fast ausdruckslos wirkte. Er war so unauffällig, dass es schwer war, sich überhaupt auf ihn zu konzentrieren, obwohl die Kamera ihn in Großaufnahme zeigte. Ein Mann, den man einfach vergaß. Schon nach seinem kurzen Weg vom Eingang des Palastes zur Tribüne langweilte mich sein Anblick.
Auf der Tribüne selbst wartete eine kleine Frau in einem erlesenen dunkelblauen Kleid, in dem schwere Silberfäden funkelten.
»Schau, Mutter, da ist Jorngiss!«, rief ich, aber irgendwie war es nicht Jorngiss, unsere alte Tante, die da stand. Es war die Erste Dienerin der Lchnadra, Verkörperung von Ihr, die uns dem Leben übergab. Das schneeweiße Haar wie eine Krone aufgesteckt, sah sie so alt aus wie die Zeit und genauso unfassbar. Neben ihr wirkte Ktorram Asnuor geradezu fehl am Platz.
In den Händen der Alten ruhte ein samtenes Kissen und darauf ein Schwert mit doppelter Klinge, dessen Heft dicht an dicht mit Juwelen besetzt war: Wys Zorn, die mächtige Waffe, mit der der Allerhöchste den Göttlichen Gegner einst zurück in die Schatten getrieben hatte. Die Kamera umschmeichelte das heilige Schwert so lange, dass sie nicht mehr rechtzeitig auf Asnuor schwenken konnte, und so stieß eine schmale, langgliedrige Hand in das Bild und hinunter auf das Schwert. Blasse Finger schlossen sich einer nach dem anderen in einer seltsam eckig-fließenden Bewegung um das prunkstrotzende Heft. Die Kamera entschied sich schnell für die Totale, und so hob Asnuor auf unserer Holographischen Wand unter Fanfarenschall den Zorn Wys in den Himmel Murraptaams, während die Menge auf dem Großen Platz in den rituellen Kniefall sank. Ich fand das Ganze nicht sehr eindrucksvoll; vielleicht lag es an der fehlenden Unmittelbarkeit der Holographischen Wand, aber ich hatte schon weitaus imposantere Zeremonien miterlebt.
Schon wollte ich mich abwenden und eine Frage an meine Mutter richten, da zoomte die Kamera auf das Gesicht des Obersten Priesters. Das Wort erstarb mir im Hals, denn Asnuor lächelte. Es war ein kleines, sattes Lächeln, und es veränderte seine unauffälligen Züge für einen Moment völlig, als würde dahinter ein anderer Mann durch die schrägen Augen blicken. Und dann begann Ktorram Asnuor zu sprechen. »Kinder Wys«, setzte er an, aber was er weiter sagte, nahm ich nicht wahr, so gefangen war ich vom Klang dieser Stimme, eine Stimme, so samtig und weich, dass man darin versinken konnte. Sie rührte etwas an in mir, von dem ich nichts gewusst hatte, umgarnte es, lockend, verheißungsvoll. Mit halb geöffneten Lippen trank ich die Stimme wie Wein, und sie sickerte hinein in mich wie in ausgedörrten Boden, und ich kam wirklich nicht auf die Idee, mich dagegen zu wehren.
Wenn Myn ihre Brüder beneidete, weil es ihnen erlaubt wurde, Naharmbra zu verlassen, so wünschte Vairrynn bald, er hätte zusammen mit seiner kleinen Schwester zu Hause bleiben können. Anfangs war er kaum weniger aufgeregt als Mudmal. Die Hauptstadt hatte ihn schon immer fasziniert. Es war, als hätte sich die Metropole am Murrap mit der Aura der Zeitalter umgeben wie mit einem Kleid, und sie schien Geschichte und Geschichten zu atmen. Ein Teil seiner selbst jedoch war jedes Mal zum Zerreißen angespannt, wenn er durch die engen Straßen ging. Murraptaam erinnerte Vairrynn unbehaglich an einen gigantischen Insektenbau, mit den vielfenstrigen Häuserkonglomeraten und den unzähligen Türmen, dünn wie Schwertklingen oft, als wollten sie den Wind zerschneiden, und mit all den gewundenen Straßen, die manchmal ins Nirgendwo führten, meistens jedoch irgendwann auf den Großen Platz mündeten.
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