An jenem Tag nun war der Vergleich mit einer Insektenkolonie noch angebrachter als sonst. Aus allen Winkeln des Reiches waren sie gekommen, in Festtagskleidung und Feierlaune und irgendwie lauter als gewöhnlich. Sie summten und surrten, aufgeregt wie buntgeflügelte Kje-Fliegen auf der Suche nach ihrer Königin, und es waren so viele. Um ihn herum wogten mehr Leute als er in seinem ganzen Leben gesehen hatte, Pilger, Schaulustige, Straßenhändler und nicht wenige jener Frauen, deren Beruf zu ahnen er längst alt genug war. Es wurden immer mehr, je näher sie dem Großen Platz kamen, mehr und irgendwie … durchdringender. Ich selbst spürte ihre Aufregung bis in meine alten Gebeine. Etwas lag in der Luft wie Unausgegorenes, und ich ließ meine Knochenfinger klacken. Ich wusste nicht, was kommen würde, denn auch ich sehe nicht alles und nicht immer, aber ich wusste, auf wen sie warteten. Auf mich wiederum wartete viel Arbeit, wenn nicht heute, dann schon bald. Behutsam legte ich meinem Jungen die Hand auf die Schulter. Wie immer merkte er es nicht, nicht wirklich jedenfalls, doch er rückte näher an seinen Vater heran, sehr bedacht, ihn nicht zu verlieren. Er schämte sich deswegen ein wenig, aber das Gedröhn der Menge pochte einfach zu sehr in seinen Ohren. Schon in Naharmbra mit seinen weiten Straßen und hellen Hallen fühlte sich Vairrynn zuweilen und urplötzlich wie eingesperrt, und dann musste er raus auf die Steppe oder hinunter ans Meer, vorzugsweise auf dem Rücken eines Tygdul. Es gab einen Grund, warum ich ihn meinen Himmelsreiter nannte, aber natürlich wusste er nichts davon, weder von dem Namen noch von dem Grund.
Mudmal teilte das Unwohlsein seines großen Bruders nicht. Aufgekratzt wie ein kleiner Wchlach und genauso schwierig im Zaum zu halten, hüpfte er mal hierhin, mal dorthin, tauchte in der Menge unter, nur um ein paar Augenblicke später wieder mit glänzenden Augen zurückgespült zu werden. Er gab Eftnek Neoly genug zu tun, um den Holzsteinschnitzer die Beklemmung seines Ältesten übersehen zu lassen.
»Du musst mich daran erinnern, für Mud eine Leine zu besorgen«, sagte Eftnek schließlich entnervt zu Vairrynn, was diesem ein kleines Lächeln entlockte. Sein Vater benahm sich Mudmal gegenüber wie ein aufgeschrecktes Muttervieh. Dabei war der Kleine wie eines jener terranischen Katzentiere: Er landete immer auf den Füßen. Vairrynn wusste das seit einem Tag vor etwa zwei Jahren, an dem Mud in einem brüderlichen Streit, der sich in eine handfeste Prügelei entwickelt hatte, kopfüber die Treppe in der Eingangshalle hinuntergestürzt war. Einen furchtbaren Moment lang hatte Vairrynn damals geglaubt, sein kleiner Bruder wäre tot. Aber Mudmal war einfach wieder aufgesprungen, hatte sich ein paar Mal geschüttelt und keiner Sterbensseele von der ganzen Sache erzählt. Vairrynn jedoch hatte der Anblick von Muds regungslosem Körper am Fuße der Treppe bis ins Mark erschüttert, und er machte seitdem seinem Vater in puncto Übervorsichtigkeit mächtig Konkurrenz, wenn es um den Kleinen ging. An diesem Tag allerdings war er nicht in der Verfassung, seines Bruders Hüter zu spielen. Irgendwie wusste er, dass er das bunte Treiben genauso großäugig in sich hätte aufsaugen sollen wie Mud, aber das war gar nicht nötig; die brodelnde Menge lärmte ihren Weg von selbst in seinen Kopf und machte ihn schwindlig. Er war erleichtert, als sie endlich auf den Großen Platz geschoben wurden; wenigstens hatte er jetzt offenen Raum um sich herum, auch wenn der Platz vollgepackt war mit Nchrynnai, und er konnte den Himmel sehen, wo sich gigantische Wolkenberge türmten, die der Wind gen Westen jagte.
Für die Mitglieder der Großen Alten und der Runde der Berufenen waren Plätze direkt vor der Tribüne reserviert, auf der der Oberste Priester sich dem Volk zeigen würde, und für diesmal war Vairrynn froh, zu einer Elite zu gehören, deren Herrschaft zwar faktisch seit mehr als zwei Zeitaltern gebrochen war, der das singisische Traditionsbewusstsein jedoch einen hervorgehobenen Status sicherte, vermutlich bis ans Ende der Zeit. Selbst auf seinem Platz zwischen seinem Vater und dem alten Neoly glaubte er immer noch, die Masse in seinem Kopf zu spüren wie ein tiefes, rhythmisches Singen aus vielen Kehlen. Die Menge hatte ihren eigenen Geist, und der wartete, wartete auf den Fanfarenstoß und den Mann, der aus dem Palast der Berufenen trat, umgeben von grüngekleideten Wypriestern wie von Drohnen, der dann auf die Tribüne schritt und neben der Ersten Dienerin zum Stehen kam.
Vairrynn konnte die Enttäuschung der Menge körperlich spüren, als Asnuor das Schwert hob. Es gibt Männer, die wirken, als wären sie dazu geboren, ein Schwert zu halten; ich weiß es, ich habe derer zuhauf gesehen und zuhauf geholt. Ktorram Asnuor jedoch war keiner von ihnen.
Einen Moment lang war Vairrynn einfach erleichtert. Doch dann schaute er genauer hin, wie er es immer tat, und da war … nichts. Für gewöhnlich, wenn Vairrynn die Leute ansah, dann blickte er in sie hinein. Die Seelen breiteten sich vor ihm aus wie weite Landschaften, die er nach Belieben betreten konnte. Er tat das nicht absichtlich. Es passierte einfach. So manches innere Leben drängte sich ihm geradezu auf, und er konnte dann nicht anders, als bis auf den Grund zu gehen, ob er wollte oder nicht. Er kannte es gar nicht anders; noch nie hatte er jemanden angeblickt, ohne etwas von dem zu sehen, was darunter lag, Schicht um Schicht, Abgrund um Abgrund, Licht um Licht. Asnuor jedoch stand da vor ihm auf seiner Tribüne, und Vairrynn sah nichts. Gar nichts. Die Leere schlug ihn so in Bann, dass er den rituellen Kniefall völlig vergaß, was ihm einen finsteren Blick des alten Neoly eintrug. Vairrynn merkte es nicht, denn in diesem Moment begann der Oberste Priester zu sprechen, und aus dem Nichts, das Asnuor war, entquoll die Stimme, dunkel und sämig, und sie sagte: »Kinder Wys, seid willkommen in der altehrwürdigen Stadt, die unsere Vorväter geschaffen haben zum Ruhme des Allerhöchsten und ihrer Taten zum Gedenken. Seht euch um, ihr Nchrynnai! Ist sie nicht glorreich?« Und die Stimme sprach von Glanz und Herrlichkeit, von Ehre und Unsterblichkeit, und der Geist der Menge horchte auf. Sind wir groß?, fragte der Geist, und Ihr seid groß, beteuerte ihm die Stimme. Und dann sprach sie vom Grauen des Nichtseins und den Tücken des Göttlichen Gegners. Da klagte der Geist, Wir sind allein in der Dunkelheit, und die Stimme sagte: »Ich werde euch Feuer sein in der Finsternis und meine Flammen werden die Schatten des Widersachers ausbrennen.« Und die Stimme hatte sich über die Menge gelegt wie ein Zelt, und als das letzte Wort verklungen war, war die Kehle meines Himmelsreiters so eng, dass er meinte zu ersticken, aber die Menge sank in einen weiteren Kniefall, der nichts Zeremonielles mehr an sich hatte. Nur ein paar wenige blieben stehen, unter ihnen der alte Neoly, was seine drei Söhne zu spät bemerkten und so recht unbehaglich in einer halb vollendeten Verbeugung verharrten. Vairrynn aber stand da, den Blick unverwandt auf Ktorram Asnuor gerichtet. Ein verzehrendes Feuer loderte, wo das Nichts gewesen war, als der Oberste Priester das Schwert zum zweiten Mal vor einer knienden Menge in den wolkenbetürmten Himmel reckte. Vairrynn zitterte. Erkennen drängte sich an die Grenze der Bewusstheit, ein Schimmer nur, doch jede Faser seines Ichs sträubte sich dagegen. Sieh nicht hin, Kind, sagte ich, und endlich senkte Vairrynn seinen Blick.
Noch tagelang nach der Zeremonie befand sich so gut wie das ganze Reich in einem Taumel der Euphorie. Die Feiern zur Einsetzung des Obersten Priesters waren rauschend gewesen, und überall lobte man Asnuor in den höchsten Tönen, als hätte sich nicht noch kurz zuvor jeder über seinen Hochmut echauffiert. Viele führten das Schlagwort einer spirituellen Wende im Mund, die die Nchrynnai auf den Weg des Heils zurückführen würde, obwohl bis vor nicht allzu langer Zeit hauptsächlich von den Monowyisten zu hören gewesen war, dass wir diesen überhaupt verlassen hätten.
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