Bald nach dem Aufbruch der Ersten Dienerin schickten die Eltern uns ins Bett. Verfressen wie ich bin, konnte ich es nicht lassen, mir einen kleinen Mitternachtsimbiss aus der Küche zu stibitzen, und ich schwöre, dass bei meiner Rückkehr die Tür zum Familienzimmer nur aus reinem Zufall einen Spalt offen stand. Ich hätte auch nicht gelauscht, hätte ich nicht Vater meinen Namen aussprechen hören, und da gewann meine ungeliebte Neugier die Überhand.
»Wieso hätte uns Jorngiss wegen Mynrichwy besuchen sollen?«, fragte Mutter gerade.
»Sag du es mir«, entgegnete Vater griesgrämig. Seine Begeisterung war beim Auftauchen der Ersten Dienerin schon alles andere als gewaltig gewesen und hatte sich im Laufe des Tages lediglich ins Negative gesteigert. Diese seine schlechte Laune war wohl auch der eigentliche Grund gewesen, warum er Vairrynn gar so zusammengestaucht hatte.
»Ich weiß nicht, worauf du hinaus willst, Eftnek.«
Ich konnte Vaters Stirnrunzeln geradezu hören. »Sie hat sich doch den ganzen Abend lang regelrecht überschlagen, was für ein besonderes Mädchen deine Tochter ist – zumindest, wenn sie nicht gerade dabei war, meinem Sohn Flausen in den Kopf zu setzen.«
»Und weiter? Freut es dich nicht, wenn jemand gut von deiner Tochter spricht?« Mutters Stimme klang eher müde als aufsässig, aber ich wusste, sie hätte solche Worte nicht gebraucht, wenn sie nicht ernstlich verärgert gewesen wäre. Einen Moment lang war es still im Familienzimmer.
»Denkst du, sie will Mynrichwy für den Orden?«, fragte mein Vater dann. Ich bekam vor Schreck einen Schluckauf und presste die Hände vor den Mund. Mein Leben wurde von einem Moment auf den anderen bitterernst.
»Ich weiß es nicht«, meinte Mutter, und ich hörte ihr das Erstaunen über diesen Gedanken an. »Das Kind ist erst neun. Aber selbst wenn – sollten wir uns nicht geehrt fühlen? Die Dienerinnen der Lchnadra sind hoch angesehen.«
Mein Vater brummelte etwas in seinen Bart.
»Was war das, Schatz?«
»Ich habe nichts gegen den Lchnadra-Orden, Lys. Aber Jorngiss denkt, sie kann von der Familie verlangen, was sie will. Und meistens verlangt sie zu viel. Dabei ist sie technisch gesehen gar keine Neoly mehr.«
»Der Fluss spricht immer von der Quelle«, entgegnete Mutter. »Und das bedeutet auch, dass Mynrichwy innerhalb des Lchnadra-Ordens so gut wie keine Grenzen gesetzt wären. Sie könnte alles erreichen, und Jorngiss hat recht, weißt du: Deine Tochter ist nicht gerade dumm.«
Vaters Gebrumm klang nur um Nuancen besänftigter. »Mir gefällt der Gedanke einfach nicht, meine Tochter dieser alten Unruhestifterin zu überlassen.«
»Es könnte die einzige Möglichkeit sein, sie vor der Heiratspolitik zu schützen, die dein Vater so leidenschaftlich betreibt«, entgegnete Mutter ernst. Langsam wurde mir aufrichtig schlecht.
»Die Entscheidung über das Leben meiner Tochter liegt bei mir«, knurrte Vater. »Der Alte wird sich nicht einmischen, ganz im Gegensatz zu Ihrer Hochwürden, der Ersten Dienerin.«
Mutter seufzte vernehmlich. »Natürlich ist es deine Entscheidung. Aber wir haben doch noch Zeit. Mynrichwy hat noch Zeit. Wir sollten ihr ihre Kindheit nicht nehmen, und ich glaube auch nicht, dass Jorngiss das vorhat.«
»Sie hat also nichts zu dir über Mynrichwys Zukunft gesagt?«, meinte Vater nach einem Moment. Er klang ehrlich erleichtert. »Was, bei Wy, wollte sie denn dann hier?«
»Ich weiß es nicht, mein Schatz«, sagte meine Mutter mit einer Fröhlichkeit, die unglaublich falsch klang in meinen Ohren, und das trieb mich endgültig weg von der Tür und in mein Zimmer, das mir schon oft wie eine kleine, sichere Höhle vorgekommen war. In dieser Nacht versagte es jedoch. Dass ich zum ersten Mal mit angehört hatte, wie meine Mutter ihren Mann belog, mit locker-leichter Stimme und ohne zu zögern, war nur der krönende Abschluss dieses Tages. Es war, als hätte sich meine Welt um eine Winzigkeit verschoben und dadurch Risse bekommen. Die Erste Dienerin, Ktorram Asnuor, die Monowyisten, eine lügende Mutter – nichts davon hatte noch am Tag zuvor einen Platz in meinem Leben gehabt. Und als sei das nicht genug, fingen meine Eltern an, sich Gedanken um meine Zukunft zu machen, als sei ich kein kleines Kind mehr, sondern …
Die Zukunftsbilder, die meine Eltern für mich gezeichnet hatten, verstörten mich. Mir war, als könnte ich plötzlich mein Leben wie eine Straße vor mir ausgebreitet sehen, eine Straße, die sich in nicht allzu großer Entfernung in zwei Richtungen zweigte. Entweder den einen oder den anderen Weg würde ich gehen müssen. Doch während ich weitäugig in meinem Bett lag und mich von einer Seite auf die andere warf, ging mir auf, dass ich gar nicht gehen wollte. Ich wollte fliegen.
Wenige Tage später war die Nachricht, die die Erste Dienerin meiner Mutter gebracht hatte, in aller Munde: Ktorram Asnuor war zum Obersten Priester gewählt. Das gesamte Reich summte vor Aufregung. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Asnuor außerhalb des Tempels kaum von sich reden gemacht. Dass er ein Monowyist war, löste milde Konsternierung aus, aber hauptsächlich waren die Leute einfach zum Platzen neugierig auf ihr neues geistliches Oberhaupt. Von keiner Seite, weder aus den Reihen meiner Familie noch aus den Medien, hörte ich ein Echo des Entsetzens, das der Name Asnuor bei Mutter ausgelöst hatte, oder wenigstes von Vairrynns stirnrunzelnder Besorgnis. Was man jedoch sehr bald hören konnte, war Unmut, ja, Ärger. Ktorram Asnuor ließ sich denkbar viel Zeit mit der Terminbekanntgabe für seine Einführungszeremonie, und wir Nchrynnai – wie wir Singisen uns selbst nennen – tun nichts ohne eine Zeremonie. Die Leute, vom Freudenmädchen bis zum Parlamentsmitglied, fühlten sich durch Asnuors Zögern mehr als vor den Kopf gestoßen.
»Worauf wartet dieser Asnuor eigentlich?«, empörte sich mein Onkel Zernteyb, der jüngste Sohn des alten Neoly, einmal meinem Vater gegenüber. »Was glaubt er denn, wer er ist? Die Manifestation Wys, die ungeweihte Augen nicht schauen dürfen? Der soll sich nicht so aufführen, dieser eingebildete Monowyist! Wie konnten sie nur auf die hirnverbrannte Idee kommen, diesen Kerl zum Obersten Priester zu wählen? Ich glaube, diesem selbstgerechten Überflieger gehören die Flügel gestutzt! Was meinst du, Eftnek, wie lange Vater sich das Ganze noch anschaut?«
»So lange, wie es dauert«, entgegnete mein Vater. »Die Großen Alten haben sich noch nie in die Angelegenheiten der Geistlichkeit eingemischt, und Vater hält nichts davon, fremde Schlachten zu schlagen, das weißt du doch ganz genau.«
»Du glaubst also tatsächlich, dass der alte Ränkeschmied diesem Möchtegern-Priester das Feld überlassen wird?«, fragte Zernteyb.
»Sein Feld, ja«, meinte Vater, und so verloren die beiden sich in einer Diskussion über den Jemand, der sich allemal noch besser für die Lästereien der Neoly-Brüder eignete als der leutscheue Oberste Priester.
»Was hältst du von der ganzen Sache?«, fragte Vairrynn wenige Tage später Mutter. »Was hat dieser Asnuor vor?« Vairrynn kam mit solchen Fragen immer zu Mutter.
»Er will, dass man über ihn redet«, antwortete sie.
»Aber es bringt ihm doch nichts, wenn die Leute schon wütend auf ihn sind, bevor er sein Amt überhaupt angetreten hat.«
»Oh, er wird sich schon etwas einfallen lassen, um sie zu versöhnen. Wichtig ist, dass sein Name jetzt in aller Munde ist. Er heizt die Stimmung immer mehr an, ohne einen Finger zu rühren, und bereitet so die Bühne für seinen großen Auftritt.« Sie sagte das mit einem zynischen, fast bitteren Unterton. Vairrynn musterte sie mit schiefgelegtem Kopf.
»Woher weißt du eigentlich so viel über Ktorram Asnuor?«
Mutter zuckte zusammen, sagte dann aber leichthin: »Um diesen Mann zu durchschauen, muss man nicht viel über ihn wissen; das kann man sich an vier Fingern ausrechnen.«
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