»Nicht wirklich«, antwortet Richard Shelton, der das Bild einer riesenhaften, flammenden Katze nicht aus dem Kopf bekommt, auch wenn das an seiner zu großen Affinität zu romantischer Lyrik liegen mag. Der erste Vers des Blake-Gedichts pulsiert wie ein fremder Herzschlag in seinem Kopf, Tyger, Tyger, burning bright, und er wünscht sich, er hätte es irgendwann schon einmal besser verstanden.
»Ich erinnere mich nicht besonders gut an die ersten Tage nach dem Tod meiner Mutter«, redet Myn inzwischen weiter. »Ich glaube, ich sagte die ganze Zeit über kein einziges Wort, bis Vairrynn Mi auf meinen Schoß setzte. Meine Muttersmutter meinte später, ich hätte stattdessen die ganze Zeit über vor mich hin gesungen.« Sie schüttelt reuevoll den Kopf. »Ich muss meine Familie beinah in den Wahnsinn getrieben haben. Nicht, dass es dazu noch viel gebraucht hätte in diesen Tagen. Mein Vater war ohnehin nur noch ein Schatten seiner selbst und setzte kaum mehr einen Fuß aus seinem Atelier. Ob er vor unserer Verachtung floh oder vor sich selbst, weiß ich nicht. Synnda Pánn wiederum war wie eine manische Kje-Fliege ohne Königin. Sie versuchte, sich um alles und jeden gleichzeitig zu kümmern, und dann brach sie immer wieder völlig unvermittelt in Tränen aus. Der Einzige, der sich normal verhielt, war Mudmal, aber das an sich war schon wieder nicht normal. Er tat einfach so, als wäre gar nichts passiert, und das machte es so gut wie unmöglich, ihm zu helfen. Ich glaube, da war es noch einfacher, mit mir umzugehen.«
»Und Vairrynn?«
»Ich kann mich nicht erinnern«, beantwortet sie seine beiläufige Frage nicht, und zum ersten Mal, seit sie angefangen hat zu erzählen, fragt sich Richard Shelton, ob sie ihm die Wahrheit sagt. »Aber seltsamerweise weiß ich noch, was gleich nach … nach der Verbrennungszeremonie passierte, nachdem Synnda Pánn meine kleine Familie nach Hause bugsiert hatte.« Myn lacht ein wenig. »Sie und Mud waren die Einzigen von uns, die kaum unter dem Einfluss des Kness standen, und ich kann mir vorstellen, dass es eine Tortur gewesen sein muss, Vater, Vairrynn und mich durch einen Raumriss nach Naharmbra und dann in das Küstenhaus zu bekommen. Wahrscheinlich hatten sie Hilfe von einigen anderen weniger empfänglichen Neolys, aber trotzdem: armer Mud, arme Synnda. Vairrynn büxte ihnen aus, bevor meine Muttersmutter ihm etwas gegen den Kness-Rausch geben konnte; ich glaube, die Droge wirkte bei ihm noch stärker als bei mir, und das will etwas heißen. Synnda war ziemlich panisch; das ist das Erste, woran ich mich erinnere, nachdem das Antitoxin seine Wirkung entfaltete. Sie rannte an den Strand hinunter, und ich stolperte ihr hinterher, immer noch völlig desorientiert.« Myn lacht wieder, aber diesmal ist es echt. »Wir fanden Vairrynn und Ftonim im Sand kauernd, beide total durchnässt. Sie sahen aus wie gebadete Kater, und sie blickten auch ungefähr genauso betreten drein. Ftonim hatte offenbar beschlossen, das beste Mittel gegen einen Kness-Rausch sei ein Bad im Meer.« Myn lacht noch immer. »Ich meine, wir hatten damals Anfang der Sturmzeit, und das Wasser war eisig! Synnda Pánn schlug die Hände über dem Kopf zusammen, packte die beiden am Nacken wie eine entnervte Katzenmama ihre Jungen und zwang dann oben in der Villa jeden, ein heißes Bad zu nehmen. Ich glaube, wenn Vairrynn nicht gerade erst die Auswirkung eines Rauschmittels losgeworden wäre, hätte sie die beiden auch noch mit Whiskey abgefüllt.«
Myn lacht immer weiter, und es erhält eine hysterische Note. Richard Shelton dreht sich zu ihr um, stützt sich auf den Ellbogen und beobachtet sie, bis ihr Lachkrampf sich zu legen beginnt.
»Alles in Ordnung?«, fragt er schließlich. Myn nickt, ernst und ein wenig schmerzlich.
»Das Schlimme ist, dass ich noch genug unter Kness-Einfluss stand, dass ich auch damals lachte. Arme Synnda. Es war ein absurder Tag. Ich weiß auch noch, wie ich zwischen Vairrynn und Ftonim auf dem Sofa im Boudoir meiner Mutter saß, in warme Decken gewickelt und eine dampfende Tasse Suppe in der Hand.« Ein kleines, hicksendes Lachen. »Synnda hatte mich nämlich gleich mit in ihre Radikalkur integriert. Aber weißt du was? In jenem Augenblick fühlte ich mich gut. Geborgen.« Sie schüttelt den Kopf. »Erst am nächsten Tag, als ich wieder einen klaren Kopf hatte, begriff ich wirklich, was passiert war, und zog mich voll und ganz in mich zurück – bis mir Vairrynn Mi schenkte eben. Deswegen kann ich dir nicht sagen, wie Vairrynn mit dem Tod unserer Mutter umging – und mit der Tatsache, dass er sie um ein Haar selbst getötet hätte. Aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass Ftonim ihm dabei half.«
Ihre Worte überraschen ihn nicht. Er fragt sich, ob es damals begann, dieses bedingungslose Einanderzugewandtsein der beiden, das ihm einst das Blut kochen machte vor lauter Neid, aber er spricht es nicht aus.
»Weißt du, was seltsam ist?«, redet Myn weiter, die immer noch den Blättern des Baumes beim Rascheln zusieht. »Das Leben ging weiter. Einfach so. Man glaubt immer, wenn etwas so Furchtbares passiert, dass das Leben unmöglich weiter seinen Gang gehen kann. Aber das tut es. Natürlich war nichts mehr so wie vorher, aber als ich meine Mutter sterben sah, hatte ich geglaubt, das Ende der Welt sei gekommen. Und das war nicht der Fall. Nicht einmal für mich.« Myn zieht wieder ihre Unterlippe durch die Zähne. »Ich meine, ich vermisste sie wie … wie ein fehlendes Glied vielleicht, und an manchen Tagen glaubte ich, vor Schmerz umzukommen, aber ich lebte weiter.«
Richard Shelton, der die Flammen des Scheiterhaufens in ihren Augen sehen kann, glaubt ihr kein Wort. Er legt sich zurück auf den Rücken und folgt ihrem Blick in den Baum hinauf. Das ist besser.
»Es half wahrscheinlich, Synnda Pánn da zu haben. Sie und Vairrynn kümmerten sich um Mudmal und mich, und das machte es … ich weiß nicht, einfacher ist wahrscheinlich nicht das richtige Wort, aber … erträglicher. Es ist schwer, Synnda Pánn zu beschreiben. Sie ist wie … wie Erde: stark und weich zugleich. Und sie strahlt eine ungeheure Ruhe aus. Ich weiß nicht, was wir ohne sie getan hätten; Vairrynn wäre ganz auf sich gestellt gewesen.«
»Was war mit deinem Vater?«
Myn stößt einen tiefen Seufzer aus, der sein Herz vor Mitleid flattern lässt.
»Wy, mein Vater … Wie ich schon sagte, wir sahen nicht wirklich viel von ihm in dieser Zeit, und wenn wir ihn sahen …« Sie schüttelt den Kopf. »Er war blass und abgemagert, und das Flackern, das ich von seinen Wutanfällen kannte, war jetzt immer in seinen Augen. Nur war er jetzt nicht mehr wütend, sondern … ich weiß auch nicht. Er zerfiel vor unseren Augen.« Sie schluckt. »Und es war uns egal. Mir zumindest. Ich war froh, wenn ich ihn überhaupt nicht zu Gesicht bekam, denn immer, wenn ich ihn sah, musste ich an diesen Schritt denken, den er vor dem Obersten Priester zurückgetan hatte. Und wenn Vairrynn und mein Vater aufeinandertrafen … Vater sah Vairrynn immer mit einem Ausdruck an, als hätte mein Bruder Mutter eigenhändig getötet, und damit meine ich nicht, ihr den Kschurr durch die Kehle gezogen, sondern sie höchstpersönlich auf den Scheiterhaufen geworfen. Und Vairrynn sah Vater ganz genauso an. In jenen Tagen dankte ich der Göttin dafür, dass unser Haus so irrwitzig groß war; es konnten Tage vergehen, ehe wir Vater begegneten.« Wieder schüttelt sie den Kopf. »Er muss so einsam gewesen sein. Meine Brüder und ich, wir suchten die Gegenwart der jeweils anderen, als würden wir sonst auseinanderfallen, und Synnda Pánn kümmerte sich um uns drei, ob wir wollten oder nicht. Aber mein Vater hatte so gut wie niemanden. Zernteyb kam sehr oft in unser Haus, und er war der Einzige, der sich noch ins Atelier wagte. Aber sonst war da nur noch Juffgam.«
»Ah …«, macht Richard Shelton und nichts weiter. Myn lächelt bitter, aber er sieht es nicht.
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