»Juffgam Nuggr war ein alter Freund meines Vaters. Seltsam wirklich, dass die beiden überhaupt Freundschaft geschlossen hatten, und dann auch noch eine so enge. Mein Vater war der geborene Ästhet, kultiviert bis zur Absurdität, und Juffgam war … von einfachem Gemüt. Was nicht unbedingt etwas Schlechtes ist, und vielleicht war es genau das, was mein Vater als so … angenehm empfand: Juffgams Unkompliziertheit. Er erregte sich über einfache Dinge und freute sich an einfachen Dingen: Wein, Weiber und Gesang, wenn du so willst. Und auch seine freundschaftliche Treue war unkompliziert. Er war einer der wenigen, die meinen Vater und seine Familie nach Mutters Tod nicht schnitten; im Gegenteil, er war mehr als je zuvor für meinen Vater da – und für seine Kinder auch, auf seine gutmütige, unbeholfene, onkelhafte Art und Weise. Er hatte Jahre zuvor seine Frau verloren, die am Biss eine Kachta gestorben war, und war allein mit seinem kleinen Sohn; vielleicht konnte er deshalb unseren Verlust so gut nachempfinden. Und dieses Mitleid war stärker als die Furcht vor Nembdr-Kontamination. Aber wahrscheinlich war es mehr als das. Juffgam war ein gutherziger Kerl. Dass er auch kleingeistig war, war vermutlich nicht einmal seine Schuld.«
»Das klingt für mich so, als wärt ihr alle isoliert gewesen, nicht nur dein Vater.«
Myn nickt ihre Zustimmung. »Meine kleine Familie hatte zum Ärger meines Großvaters nie wirklich intensiv am gesellschaftlichen Leben auf Singis teilgenommen – mit Ausnahme des Wahlkampfs natürlich –, aber das war eine bewusste Entscheidung gewesen. Die gesellschaftliche Isolierung nach dem Tod meiner Mutter, das war Zwang – und sie war umfassend. Große Einheit, das erste Jahr über wurden wir behandelt wie Aussätzige. Ich weiß nicht genau, wie es den Jungs in der Schule ging; wir redeten nie wirklich darüber. Ich für meinen Teil beschloss nach drei Lchnattau, überhaupt nicht mehr in die Mädchenschule zu gehen. Es könnte sein, dass es das erste Mal war, dass ich meinen Vater nach Mutters Tod direkt ansprach, als ich ihn um die Erlaubnis bat, die Schule zu verlassen, und er gab sie, ohne eine Miene zu verziehen. Dieses ›Bildungsinstitut‹ war ohnehin nichts anderes als eine Anstalt, um perfekte, kleine Ehefrauen heranzuziehen, und die drei Tage die Nysda, die ich dort war, konnte ich getrost mein Gehirn auf Standby schalten. Und nach dem Tod meiner Mutter …« Sie beißt sich auf die Unterlippe. »Nein, darüber will ich nicht reden. Du hast wahrscheinlich keine Vorstellung davon, zu welchem Grad an Boshaftigkeit heranwachsende Große Damen fähig sind, und die Lehrer dort beobachteten mich wie jagende Frnai, als erwarteten sie, ich könnte jeden Moment etwas ›Widernatürliches‹ tun. Was wussten die schon! Ich hatte schon vor Jahren gelernt, in der Mädchenschule meinen Mund zu halten, um nicht aus Versehen das Wissen erahnen zu lassen, das Vairrynn mir vermittelt hatte.«
»Unterrichtete er dich auch zu dieser Zeit noch?«
»Aber natürlich. Ich glaube, manchmal hielt uns nur dieses gemeinsame Lernen bei Verstand. Inzwischen taten wir es sogar ganz offen zu Hause; vermutlich war Vairrynn zu diesem Zeitpunkt ganz egal, was Vater sagen würde – oder er wollte ihn sogar provozieren. Trotzdem ritten wir noch oft zusammen zum Gonn-Memnáh; das versteckte Tal war der Ort, der allein uns gehörte, und ich war so süchtig danach wie eh und je. Die Mnegau dort wurden dann umso wertvoller, als Synnda Pánn nach einem halben Jahr nach Yallchá zurückkehrte. Von da an waren wir allein. Vairrynn und ich taten unser Bestes, uns um Mud zu kümmern. Es mag ein wenig absurd klingen, da ich nur ein Jahr älter bin als mein kleiner Bruder. Aber Mud war damals noch ein Kind. Und ich war das nicht.«
»Du warst dreizehn«, sagt Richard Shelton leise. »Natürlich warst du noch ein Kind.«
Sie wendet ihm den Kopf zu. »Du weißt genau, dass Singis-Jahre länger sind als terranische. Nach eurer Zeit war ich damals siebzehn.«
Auch er dreht sich ihr zu und erwidert ihren Blick. »Und du weißt genau, dass die Umrechnung nicht eins-zu-eins funktioniert, wenn es um Lebensalter geht. Du warst noch ein Kind.«
Sie blinzelt ihn an und protestiert nicht. Er blinzelt zurück und spürt ihren Widerspruch so deutlich, als hätte sie ihn ausgesprochen.
»Hätte Synnda Pánn nicht noch länger bleiben können?«, fragt er, vielleicht deswegen oder auch nicht. Er empfindet fast irrationalen Ärger auf diese Fremde, der Myn nicht verborgen bleibt.
»Sie war ohnehin länger geblieben, als sie willkommen war«, meint sie sanft. »Die Neolys mögen es nicht, wenn sich jemand, der nicht zur Familie gehört, in ihre Angelegenheiten mischt.«
Er runzelt die Stirn. »Aber Synnda Pánn ist doch deine Großmutter.«
Myn seufzt. »Das verbindet sie mit mir, mit den Kindern ihrer Tochter. Aber nicht mit den Neolys.« Seine Stirn glättet sich nicht, und sie lächelt ein wenig, weil sie ihm Dinge erklären muss, die für sie selbstverständlich sind. »Singisische Familienbeziehungen sind sehr kompliziert. Sie bestehen aus Blutsbanden und Loyalitätsbanden, wobei sich die Letzteren dadurch von den Ersteren unterscheiden, dass sie gelöst werden können. Wenn eine Frau heiratet, zum Beispiel, können die Blutsbande zu ihrer Familie natürlich nicht gelöst werden, und sie knüpft auch keine zu ihrer neuen Familie, mit Ausnahme ihrer eigenen Kinder. Die Loyalitätsbande zu ihrer Ursprungsfamilie jedoch lösen sich völlig und bestehen nur noch zu der neuen.«
Seine Miene klärt sich ein wenig, aber nicht sonderlich viel. »Blutsbande sind also biologisch und Loyalitätsbande rechtlich?«
»Nein, nicht ganz. Mein Vater und der alte Neoly schworen zum Beispiel den Blutsschwur, als sie Vairrynn in die Familie aufnahmen. Sie hätten auch nur den Loyalitätsschwur leisten können, aber das haben sie nicht getan. Und als der alte Neoly meinem Onkel Quescnarm mit dem Familienausschluss drohte – du erinnerst dich? – sprach er nur von der Lösung der Loyalitätsbande; Blutsbande lassen sich heutzutage nur mit DNA-Test lösen, das heißt, wenn auch wirklich nachweislich keine Blutsverwandtschaft besteht. Und Blutsschwüre …« Sie zuckt mit den Schultern.
Richard Shelton schüttelt konsterniert den Kopf. »Singisen und ihre Familienbande! … Gilt das strenge Inzestverbot dann nur für die Blutsgebundenen?«
»Nein. Das gilt für alle. Man kann ja keine Frevelei riskieren!«
Trotz allem muss Richard Shelton lachen. Das lernt er von ihr: zu lachen, wo andere es absurd finden würden. Eine Weile liegen die beiden schweigend nebeneinander und blicken in das Blätterdach, das nicht mehr grün ist, sondern ein Baldachin bewegter Schatten.
»Es ist seltsam«, sagt Myn schließlich. »Das Leben fand einfach einen neuen Rhythmus. Einen anderen, wahrscheinlich keinen besseren, aber einen Rhythmus, der sehr schnell Gewohnheit wurde. Es ging einfach weiter.«
»Das hast du schon gesagt«, entgegnet er, und er glaubt ihr dieses zweite Mal nicht mehr als das erste, »dass die Welt nach dem Tod deiner Mutter nicht stehenblieb.«
»Das meine ich nicht. Ich meine das Andere: Das Leben im Reich verlief einfach mehr oder weniger in seinen gewohnten Bahnen – selbst nachdem Ktorram Asnuor zwei Nysdau nach der Verbrennung der Baummörderin zum Vorsteher des Reiches gewählt wurde. Er verstärkte die militärische Präsenz an der Grenze zu den U. P., führte durch, was er eine ›Reform der Verteidigungskräfte‹ nannte, und ließ eine neu eingerichtete Gruppe, die sogenannten ›Streiter des Wy‹, nach weiteren Mitgliedern der Organisation fahnden. Doch die Töchter der Lchnadra hatten sich nach Mutters Tod zurückgezogen, und die Streiter fanden nichts. Freundinnen meiner Mutter standen eine Zeitlang unter Beobachtung, aber wie gesagt: Sie verhielten sich still. Und das war’s – zumindest sah es so aus.«
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