Es war am 10. Mai 1941 gewesen, beim letzten großen Luftangriff der Deutschen auf die britische Hauptstadt vor deren Angriff im Osten. David war auf dem Heimweg, als sie von den Sirenen überrascht wurden. Das Geheule war noch nicht verstummt, als bereits die ersten Bomben fielen. Gerade als sie in ihr Viertel einbogen, erwischte eine Bombenserie die gesamte Straße. Davids Wagen wurde von der Druckwelle in die Luft gehoben und blieb völlig zerstört auf der Seite liegen. Es gelang ihm, sich aus dem Wrack zu befreien. Er hatte neben mehreren Prellungen nur leichte Schnittwunden abbekommen. Sein Fahrer war halb aus dem Fenster geschleudert und von dem auf die Fahrerseite fallenden Wagen zerquetscht worden. Er musste auf der Stelle tot gewesen sein. David starrte entsetzt auf die Reste eines menschlichen Körpers, die unter dem Auto hervorschauten und in einer riesigen Blutlache lagen.
Dann drehte er, noch ganz benommen, den Kopf in Richtung der Straße, in der er bis vorhin mit seiner Familie gewohnt hatte. Soweit er zwischen dem Rauch und den auf beiden Seiten lodernden Flammen erkennen konnte, stand kein Haus mehr.
Den Mund halb offen, die Augen vor Entsetzen weit geöffnet, durchfuhr es ihn wie ein Blitz.
»Kate«, kam es ihm aus der Kehle. »Kaaaate«, schrie er und rannte los. Er stolperte über die Steine, stürzte, rappelte sich mühsam wieder auf und kämpfte sich weiter durch den beißenden Rauch auf ihr Haus zu. Er stürzte erneut und schlug mit dem Gesicht hart auf der Straße auf. Ihm wurde schwarz vor Augen, der Schmerz in seinem Kopf war grauenvoll, dann verlor er das Bewusstsein.
Er wusste nicht, wie lange er dort gelegen hatte, bis ihm ein stechender Schmerz das Bewusstsein zurückbrachte. Er blieb noch einen Moment regungslos liegen, bevor er langsam die Augen öffnete. Neben ihm lag jemand und sah ihn an. Das Weiß um die Pupille war klar und rein. Das Auge fixierte ihn aus einem ansonsten völlig verkohlten Kopf heraus. Die Haut hatte sich vom Fleisch gelöst und hing in Fetzen herab. An manchen Stellen waren noch die gekräuselten Reste der Haare erkennbar und kleine Rauchfahnen stiegen von dem verbrannten Fleisch auf. Ein entsetzlicher Gestank fuhr ihm in die Nase.
Entsetzt rappelte er sich auf und stolperte hinkend auf den Block zu, indem sie ihre Wohnung hatten. Das Haus stand in Flammen, die obere Hälfte war eingestürzt. Davor entdeckte er zwei Leichen. Er sah sich suchend um, sein Blick glitt über die beiden toten Körper, suchten etwas Vertrautes, etwas, das er kannte und er war erleichtert, als er nichts dergleichen finden konnte. Dunkler Rauch blies ihm ins Gesicht. Seine Augen brannten wie Feuer. Er kniff sie zusammen und fuhr sich mit beiden Händen über sein rußverschmiertes Gesicht, in der Hoffnung, dadurch die Schmerzen etwas zu lindern. Er ging ein paar Schritte weiter, dann sah er zwischen den Rauchschwaden einen alten Mann, der auf dem Boden saß. Der Mann hatte einen großen Sack vor sich liegen. Vermutlich waren darin einige persönliche Dinge, die er retten konnte. David ging auf ihn zu. Beide Augen tränten und er versuchte zu erkennen, ob es der Mann war, der neben ihnen gewohnt hatte. Einer, der immer nett und hilfsbereit gewesen und Kate geholfen hatte, wann immer es notwendig war.
Das Stechen in seinem Oberschenkel wurde stärker. Er zog das Bein nach, als er schlurfend auf den Mann zuging.
Der Alte sah ihn aus einem geschwärzten Gesicht an. Dann ließ er seinen Kopf langsam wieder sinken.
David hatte ihn erkannt, es war William. Sein Blick glitt an ihm herunter, dann blieben seine Augen an einem Armband haften. Das Band kam ihm bekannt vor. Es sah genauso aus wie das, das er seiner Frau zum letzten Hochzeitstag geschenkt hatte. Aber warum trug der Mann das Armband von Kate? Seine Augen folgten den Arm, an dem es befestigt war. Doch der Arm entfernte sich von dem alten Mann und verschwand in dem Sack, der vor ihm lag. Eine düstere Ahnung erschlich David und schnürte ihm die Kehle zu. Ein erstickter Laut verließ seinen Mund, als er sich langsam auf die Knie fallen ließ. William hob erneut den Kopf. Diesmal lief eine Träne über sein rußgeschwärztes Gesicht und zog eine verschmierte, hellgraue Spur nach sich. David streckte die Hand aus. Der Arm, der das Armband trug, war noch warm. Seine Finger glitten über die Haut auf den Sack zu. Doch das war kein Sack, es war nur eine Plane. Seine Finger krallten sich um den Rand des Plastiks und bohrten sich in seinen Handballen. Langsam zog er die Folie zurück und erkannte die blonden Locken, die er so geliebt hatte.
»Kate«, winselte er kaum hörbar. Er zog die Plane zur Seite, bis er den Oberkörper aufgedeckt hatte.
»Neeeeiiiiin!« Der Schrei ging im Fauchen der Flammen unter. Sein Kopf fiel auf Kates Schulter und seine gurgelnden Laute erstickten in den verbrannten Kleidern, die sie am Körper trug.
Nur eine Sekunde später schreckte er hoch und mit dem Namen seiner Tochter auf den Lippen wollte er sich gerade zu William umdrehen, als er spürte, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte und die Finger nach Aufmerksamkeit riefen. Er drehte den Kopf und blickte William mit tränenunterlaufenen Augen an. William deutete mit einem Nicken zur Straße. David richtete den Oberkörper auf und wandte sich um. Auf der Straße stand ein Mädchen. Die langen blonden Haare hingen wild um ihren Kopf, die Kleidung war völlig verstaubt.
»Papa?«
Tock, Tock, Tock.
In weiter Ferne vernahm er ein Klopfen, das kräftige Knarren der Holztür seines Büros klang schon deutlich näher und das darauffolgende laute Schließen der Tür holte ihn endgültig aus seinen Gedanken zurück.
»David?«
Frank ging direkt auf den Schreibtisch zu, hinter dem David saß. In der Hand hielt er ein Papier.
»Neue Informationen aus Stockholm.«
»Und?«, fragte David, der noch nicht ganz aus seiner schrecklichen Vergangenheit zurück war, teilnahmslos. Doch nur den Bruchteil einer Sekunde später hatte er begriffen, dass dieses Blatt Papier das war, worauf er seit zwei Tagen wartete und sprang überraschend flink auf.
»Zeig her«, sagte er und strecke Frank fordernd die Hand entgegen.
»Keine guten Neuigkeiten«, sagte Frank, und während David den Inhalt las, sprach er weiter. »Carl hatte einen schweren Unfall. Sie konnten ihn zwar noch aus dem brennenden Fahrzeug ziehen, aber es sieht nicht gut aus. Sein Fahrer konnte nicht mehr gerettet werden und der Wagen brannte völlig aus. Carl hatte zwei Koffer dabei, die beide stark in Mitleidenschaft gezogen wurden. Einen Teil der Unterlagen konnten die Schweden aber vor der endgültigen Vernichtung bewahren.«
»Ist noch irgendwas verwertbar?« David beschlich ein ungutes Gefühl.
»Keine Ahnung«, antwortete Frank. »Mehr wissen wir noch nicht.«
»Ich muss unbedingt mit der britischen Gesandtschaft sprechen.« David ging um den Tisch herum. »Ich muss wissen, wie viel von den Unterlagen noch brauchbar ist. Das ist wichtig. Davon hängt so viel ab.«
»Ich habe schon nachgefragt und die Antwort kam diesmal umgehend. Sie sagten, sie hätten bisher keine weiteren Informationen erhalten und die Schweden wüssten scheinbar auch nicht mehr.«
»Das kann nicht sein«, erwiderte David aufgebracht und mit einer deutlichen Handbewegung gab er Frank zu verstehen, dass er sich damit nicht zufriedengab. »Wenn ein Teil der Papiere gerettet werden konnte, dann kann man daraus auch noch irgendetwas verwerten. Ich will wissen, was da drinsteht.«
David ging wütend in seinem Büro auf und ab. Er dachte nach. Dann blieb er unvermittelt stehen, wandte sich Richtung Frank und ging fingerzeigend auf ihn zu.
»Wir müssen die Papiere haben.« Er sah Frank an. »Ich bin sicher, unsere Spezialisten können da noch was rausholen. Ich brauche diese Unterlagen und ...«. Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: »... und du wirst sie mir holen.«
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