Obwohl Hans und Dieter mit ihrer Gruppe seit dem erfolgreichen Erstflug eines A4 im Oktober 1942 an der Entwicklung einer zweistufigen Interkontinentalrakete arbeiteten, stellte dieses Projekt doch alles bisher da gewesene bei Weitem in den Schatten. Eine Rakete zu starten, die sich bis zu fünfundachtzig Kilometer in die Atmosphäre schraubte, und eine Reichweite von annähernd dreihundert Kilometern aufwies, war schon eine ungeheure Leistung. Die Forderung, in einer so kurzen Zeit eine interkontinentale Rakete zu entwickeln, die bis nach Amerika fliegen konnte, also eine Entfernung von über 7000 Kilometer überbrücken musste, war der absolute Wahnsinn. Dagegen stellte sich die Anweisung, den Verschuss einer A4-Rakete von See her zu ermöglichen, fast schon als Kleinigkeit dar.
Himmler hielt Wort.
Bereits Mitte Januar 1944 trafen weitere Ingenieure in Peenemünde ein die, so gut es ging, auf die vorhandenen Gebäude verteilt wurden. Dies erschwerte die bisherigen Entwicklungen, denn ihre Einarbeitung und Integration in die laufenden Projekte erforderte einen ungeheuren zusätzlichen Aufwand. In mehreren Sonderzügen kamen unzählige Kriegsgefangene, die sofort zum Bau von Wohn- und Arbeitsgebäuden herangezogen wurden. Gleichzeitig erhöhte die SS ihre Präsenz und mischte sich verstärkt in das Leben und die Arbeit in Peenemünde ein.
Das Ergebnis der Entwicklung eines Schwimmkörpers für den Transport und den Verschuss von See aus schwamm nun im Bunker KEROMAN III neben U-2500 und würde heute Nacht zu seinem Einsatz aufbrechen. Daneben lag eine weitere geheime Neuentwicklung. Das erste der neuen, großen Elektro-U-Boote, das den Schwimmkörper zu dem noch unbekannten Einsatzort bringen sollte. War dies nun der Auftakt zu dem schon lange propagierten und bevorstehenden Endsieg?
Die Mannschaft von U-2500 setzte sich aus Elitesoldaten der deutschen U-Boot-Waffe zusammen. Sie waren nach genau vorgegebenen, strengen Regeln ausgesucht und in den letzten Monaten intensiv ausgebildet worden. Eine Ausbildung, die neben dem alten U-Boot-Typ VIIC auch eine umfangreiche Vorbereitung auf dem neuen Typ XXI beinhaltet hatte.
Endlich war es so weit. Der Einsatz stand unmittelbar bevor und nun konnten auch sie ihren Beitrag zum deutschen Sieg leisten.
Der Saal lag im Erdgeschoss des Kasernengebäudes. Auf langen, dunklen Holzdielen waren einfache Stühle aneinandergereiht worden. Vorne hatte man ein Rednerpult aufgestellt und an die Wand eine riesige Hakenkreuzfahne gehängt. Rechts daneben hing ein gemaltes Porträt von Hitler. Die Fenster waren durch schwere Vorhänge verdeckt, der Raum selbst wurde von den Lampen an der Decke nur unzureichend beleuchtet. Im vorderen Bereich hingen drei provisorisch angebrachte Strahler, die auf die Fahne, das Bild des Führers und das Rednerpult ausgerichtet waren.
Hans hatte gegen vierzehn Uhr die Einsatzbereitschaft des Boots und des Hängers gemeldet. Sie hatten es geschafft, noch in der Nacht alle Umbaumaßnahmen abzuschließen. Am Vormittag war dann eine letzte Gesamtprüfung der technischen Anlage erfolgreich absolviert worden. Obwohl die neuen Stecker noch geliefert wurden, hatten sie sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie auszupacken und zu prüfen. Sie wollten kein Risiko mehr eingehen. Das System funktionierte und das Boot war einsatzbereit. Nur das zählte jetzt.
Hans saß neben seinem Freund. Nervosität und eine innere Spannung hatten von ihm Besitz ergriffen. Unter den Augen hatte er dunkle Ränder, die ihn älter erschienen ließen. Allerlei Gedanken kreisten ihm durch den Kopf. Elisabeth, die Kinder, das Haus in Berlin, in dem er aufgewachsen war, seine Mutter und in einer leichten Unschärfe auch sein Vater, der ihm lächelnd die Hand entgegenstreckte. Dann sah er sich als Jugendlicher, auf dem Friedhof stehend, vor einem mit Blumen geschmückten Grab. Es war das seines Vaters.
»Achtung!«
Auf einen Schlag verstummten die Gespräche. Für eine Sekunde waren lautes Poltern und das Rutschen von Stühlen auf dem Holzboden zu hören, dann war es still im Raum. Die U-Boot-Männer standen regungslos in wie mit dem Lineal gezogenen Reihen. Auch die Wissenschaftler waren von ihren Stühlen aufgesprungen, nur konnte bei Ihnen nicht von geraden Linien gesprochen werden.
Zwei Marinesoldaten betraten den Raum und stellten sich zu beiden Seiten der Eingangstür auf. Es war totenstill. Durch den Eingang drang das Geräusch von sich nähernden Stiefelschritten. Dann erschien ein mittelgroßer Mann. Er blieb einen Moment im Schatten des Türbogens stehen und die Soldaten neben der Tür nahmen Haltung an. Sein dunkler Mantel schluckte die diesige Beleuchtung fast komplett, sodass die Person selbst kaum zu erkennen war. Doch das Licht reichte aus, um von den Abzeichen und Emblemen der Uniform in einer gespenstischen Weise reflektiert zu werden. Über allem thronte der goldfarbene Reichsadler, darunter das Eichenlaub und die doppelreihigen Lorbeerblätter. Rechts und links leuchteten die Schulterstücke. Der Reverskragen war gerade noch als dunkelblau auszumachen, zu beiden Seiten zierten jeweils vier goldene, übereinander angebrachte Knöpfe die Mantelvorderseite. Am unteren Ende der Ärmel zeugten, für jeden sichtbar, ein breiter und vier schmale Ärmelstreifen mit einem darüber liegenden Stern mit fünf Spitzen von dem hohen Rang, den der Besucher innehatte. Zu guter Letzt war noch ein Teil des goldenen Griffs des Marschallstabs zu erkennen, den er in der rechten Hand trug.
Dönitz ging durch den Saal, der jeden einzelnen seiner Schritte zu verstärken schien. Als er auf Höhe der ersten Reihe angekommen war, trat der Kapitänleutnant vor und legte den rechten Arm an die Mütze.
»Herr Großadmiral. Ich melde die Mannschaft von U-2500 vollzählig angetreten.«
»Danke, Herr Kapitänleutnant«, erwiderte Dönitz und gab ihm die Hand. Dann ging er zum Rednerpult. Die Marineoffiziere, die ihm gefolgt waren, stellten sich versetzt hinter ihn. Sein Mantel war mit kleinen Wassertropfen übersät. Wie es aussah, hatte es draußen zu regnen begonnen.
Dönitz legte die Mütze auf das Pult, dann ließ er seinen Blick über die im Raum versammelten Männer wandern. Hans erschien es, als würde er jeden Einzelnen mustern. Er nahm sich Zeit, dann nickte er und die Männer setzten sich auf ihre Stühle.
Hans war gespannt, aufgeregt und stolz zugleich. Ein Gefühl, das sich immer bei ihm einstellte, wenn er hochgestellte Persönlichkeiten des Reichs traf.
Dönitz hatte das Amt des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine 1943 von Großadmiral Raeder übernommen. Er hatte auf einer kleinen Insel, ganz in der Nähe der KEROMAN Bunker, eines seiner Hauptquartiere mit dem Codenamen Berlin , das er gelegentlich nutzte.
»Männer der deutschen U-Boot-Waffe, deutsche Wissenschaftler und Ingenieure«, begann er. »Als wir im Jahre 1939 den Kampf gegen die Westmächte aufgenommen haben, sind wir mit einer kleinen und beschaulichen U-Boot-Flotte in den Krieg gezogen. Und trotzdem hatte sie damals schon beachtliche Erfolge aufzuweisen. Der Ausbau der U-Boot-Waffe führte dazu, dass wir im letzten Jahr die höchsten Versenkungsziffern innerhalb eines Monats erreicht haben.« Er machte eine kurze Pause, um die Wirkung seiner Worte zu unterstreichen. »Aus dem Krieg, der gegen England und Frankreich begann und mit einem glorreichen Sieg über Frankreich fortgesetzt wurde, ist ein globaler Kampf geworden. Unsere Flotte, allen voran die U-Boote, kämpft heute auf vielen Ozeanen gegen Gegner, die versuchen, Deutschland niederzuringen. Doch dazu wird es nicht kommen. Man muss aber zugeben, auch unsere Feinde haben dazugelernt und neue Abwehrmaßnahmen entwickelt.«
Damit spielt er sicher auf die vielen Misserfolge und Verluste der letzten zwölf Monate an, ging es Hans durch den Kopf.
»So sahen wir uns wiederum gezwungen, neue, schlagkräftigere Boote zu entwickeln, die vor allem in ihren Antriebsmöglichkeiten und der Geschwindigkeit wesentliche Verbesserungen aufweisen. Und wieder haben die Ingenieure eine hervorragende Arbeit geleistet. Mit den neuen Booten werden wir unseren Gegnern zeigen, mit wem sie es hier und heute zu tun haben. Mit ihnen ist auch in getauchtem Zustand die Verfolgung eines Geleitzugs problemlos möglich. Darüber hinaus wurde die Tauchzeit deutlich erhöht. Diese Waffe wird uns die Schlagkraft und Überlegenheit zurückgeben, mit der wir endgültig die Engländer aushungern und den Nachschub über den Atlantik unterbinden können.« Damit legte er eine Pause ein.
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