»Ihr, die ihr hier vor mir sitzt, werdet die Ersten sein. Ihr seid dazu bestimmt worden, mit einem solchen neuen Boot an die Front zu fahren.«
Erneut machte er eine kurze Pause.
»Doch es ist nicht eure Aufgabe, Schiffe aufzuspüren und zu versenken. Eure Aufgabe ist es, eine Waffe zum Einsatz zu bringen, die die Welt bisher noch nicht gesehen hat. Eine Waffe, die unseren Gegnern das Fürchten lehren und die diesen heldenhaften Kampf unseres Volkes endgültig zugunsten Deutschlands entscheiden wird.«
Er ließ seinen Blick über die Männer schweifen, deren Begeisterung ihn förmlich anzuspringen schien.
»Ihr seid ausgewählt worden, weil ihr zur Elite der deutschen Marinesoldaten gehört und aus tiefster Überzeugung bereit seid, für unseren Führer und unser Vaterland den höchsten Einsatz zu bringen, den ein deutscher Mann bringen kann.«
Hans musste schlucken, als er die Worte hörte.
»Ihr habt die ehrenvolle Aufgabe, heute zu einem besonderen und historischen Auftrag aufzubrechen. Ihr seid ausgewählt worden«, wiederholte Dönitz, »um in dieser Stunde unserem Gegner einen Schlag zu versetzen, der den Kriegsverlauf entscheidend verändern wird. Seit vielen Jahren arbeiten Wissenschaftler und Ingenieure im ganzen Reich an der Entwicklung von Waffensystemen, die alles bekannte in den Schatten stellen und uns völlig neue Möglichkeiten der Kriegführung eröffnen. Ihnen ist es gelungen, eine Waffe herzustellen, mit der wir in der Lage sind, unsere Gegner so wirkungsvoll zu bekämpfen, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein wird, bis der Sieg in diesem großen Kampf der Sieg Deutschlands ist.«
Dönitz sah jetzt die Wissenschaftler an.
»Ich möchte hiermit meinen Dank und auch den Dank des Führers an diejenigen aussprechen, denen diese Leistung gelungen ist und von denen einige hier anwesend sind.« Er nickte den Ingenieuren zu, dann wandte er seinen Kopf wieder den Soldaten zu. »Die Zeit ist nun gekommen, den entscheidenden Schlag in diesem heldenhaften Ringen Deutschlands auszuführen. Die Augen unseres Führers Adolf Hitler und des ganzen deutschen Volks sind nun auf euch gerichtet. Ihr werdet heute Nacht zu einem Einsatz aufbrechen, auf den noch eure Enkel stolz sein werden. In eurer Hand liegt nun das Schicksal unseres Volkes.«
Er beendete seine Rede mit einem dreifachen »Sieg Heil«, trat einen Schritt zurück und hob seinen Marschallstab kurz an. Dann setzte er seine Mütze auf, wandte sich um und ging auf die Soldaten zu.
Wieder erschallte ein »Achtung« durch den Raum und erneut sprangen die Soldaten und die Wissenschaftler auf.
Der Kapitänleutnant führte seine rechte Hand an die Mütze, als der Großadmiral auf ihn zukam. Dönitz streckte ihm die Hand entgegen.
»Herr Kapitänleutnant, ich wünsche Ihnen und ihrer Mannschaft viel Glück.«
»Danke, Herr Großadmiral.«
Dönitz schüttelte ihm kurz die Hand, dann hob er erneut den Marschallstab, drehte sich um und ging zur Eingangstür zurück. Seine Schritte hallten von der Decke wieder. Die Soldaten neben dem Eingang präsentierten ihr Gewehr. Ohne die geringste Bewegung standen sie sich gegenüber, als der Großadmiral den Raum verließ.
Hans atmete erleichtert aus. Er war wieder unter großer Anspannung gestanden und spürte nun, dass er die ganze Zeit seine Finger in die Handballen gedrückt hatte.
Lautes Stühlerücken ertönte aus dem Hintergrund, als ihm jemand eine Hand auf die Schulter legte. »Na, wie sieht‘s aus. Wollen wir zum Abschied noch einen trinken gehen? Ein bisschen Zeit hab ich noch.«
Hans drehte sich um und blickte in ein lächelndes Gesicht mit einem blauen Auge, das andere war durch eine lange, dicke Haarsträhne verdeckt.
»Ach du, Fritz.«
Hans zögerte. Eigentlich wollte er auf sein Zimmer und packen. Und davor noch bei Elisabeth anrufen.
»Na, komm schon«, forderte ihn Fritz auf. »Wer weiß, ob wir uns je wiedersehen. Unser Auslaufen wurde um eine Stunde vorverlegt. Zeit für einen kleinen Drink bleibt aber noch.« Er hob seine Schultern, legte den Kopf schief und sah Hans fordernd an.
»Du hast Recht, wer weiß schon, wie die Zukunft aussieht. Vielleicht werfen sie dich ja auch über Bord, wenn sie erst einmal festgestellt haben, wie du wirklich bist.« Hans grinste.
»Wann musst du auf dem Boot sein?«, wollte Dieter wissen.
»Spätestens um neun müssen alle an Bord sein, um elf geht‘s dann los. Man vermutet, dass die Engländer von unserem Auslaufen erfahren haben, daher starten wir eine Stunde früher.«
Hans beneidete Fritz absolut nicht. Fritz ging mit drei weiteren Ingenieuren ebenfalls an Bord des U-Boots und war dafür verantwortlich, dass bei diesem wichtigen Einsatz alles reibungslos über die Bühne ging. Zumindest was die Rakete betraf.
Packen und daheim anrufen kann ich morgen früh auch noch, dachte er, wir fliegen ja erst um elf zurück.
Fritz legte Hans den Arm um die Schulter und drehte sich dann mit ihm zusammen zu den anderen Ingenieuren um.
»Wer geht noch mit?«, fragte er in die Runde. »Einen kleinen zum Abschied?« Das vielfältige Gemurmel unter den Kollegen klang nach allgemeiner Zustimmung.
»Na, dann los«, gab Fritz das Kommando und die Gruppe der Wissenschaftler zog durch den Gang, den vorhin noch Großadmiral Dönitz durchschritten hatte, dem Ausgang entgegen. Außer ihnen war mittlerweile niemand mehr im Raum.
Hans nahm im Augenwinkel wahr, dass zwei dunkle Gestalten aus dem Schatten der Tür traten und stehen blieben. Die Männer trugen beide einen langen Mantel und graue Hüte.
Als sich die Ingenieure der Tür näherten, machte Fritz drei schnelle Schritte und setzte sich so vor die Gruppe, um als Erster durch die Tür zu gehen. Kaum war er durch, trat von der anderen Seite ein großer Mann in den Türrahmen, sodass Hans abrupt stehen bleiben musste und ihn überrascht anstarrte.
Er wurde von hinten angerempelt, fing sich aber schnell wieder und konnte noch verhindern, dass er nicht das Gleichgewicht verlor. Stimmen hinter ihm riefen etwas. Sein Magen drehte sich urplötzlich und nach einem Moment, der ihm ewig lang vorkam, fragte ihn der Mann: »Hans Friedel?«
Eine weitere Windung des Magens ließ einen üblen Geschmack in seinem Mund aufkommen. Er schluckte, um ihn loszuwerden, dann nickte er.
»Sie sind verhaftet!«
London, Freitag, 2. Juni 1944, 19:11 Uhr
»Das gibt‘s doch nicht!«
David knallte den Hörer auf die Gabel. Seit zwei Tagen versuchte er nun, Informationen aus Stockholm zu bekommen. Entweder kam er erst gar nicht zur britischen Gesandtschaft durch oder diese hatten immer noch nichts Neues für ihn. Das Einzige, was man ihm bisher mitteilen konnte, war, dass das Flugzeug mit Carl planmäßig in der schwedischen Hauptstadt gelandet war. Mehr auch nicht. Er ließ sich in seinen Stuhl fallen, nahm einen Bleistift in die Hand und klopfte damit auf den Tisch.
Tock, Tock, Tock.
Was kann da passiert sein?
Tock, Tock, Tock.
Er ging noch einmal alles durch. Carl war planmäßig in Stockholm gelandet. Die Deutschen konnten nichts bemerkt haben, sonst hätten sie ihn nicht ausreisen lassen. Irgendetwas musste schiefgelaufen sein. Die Regierung in Stockholm hatte ihm zugesichert, dass er die Papiere umgehend erhalten würde, sobald sie diese im Außenministerium kopiert hatten. Es gab also nur zwei Möglichkeiten. Carl war ohne die Unterlagen gekommen oder die Informationen waren bei den Schweden und die rückten sie nicht raus. Warum auch immer.
Tock, Tock, Tock.
Sein Blick fiel auf das Foto auf dem Schreibtisch und er betrachtete es einige Sekunden lang.
»Meine Kate«, sagte er leise, beugte sich schwerfällig vor und nahm das Bild in die Hand. Eine hübsche Frau in der zweiten Hälfte der Dreißiger mit langen blonden Haaren lächelte ihn an. Sie saß auf einer Bank am Ufer der Themse und hatte ihren Arm um ein Mädchen gelegt. Er fuhr mit dem Zeigefinger langsam über den Kopf von Kate und dann weiter zu seiner Tochter. »Linda.« Eine Träne rann ihm über die Wange. Wie lange ist es jetzt schon her? überlegte er und rechnete nach. Drei Jahre und drei Wochen. Er schloss die Augen und löste damit weitere Tränen aus, die ihm über das Gesicht liefen.
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