„Mir scheint, ihr verurteilt die Kunst zum Künstlichen. Seht in ihr das Übel für Scheinhaftigkeit, Macht und Reichtum. Aber das sind andere Qualitäten. Wahre Kunst stellt Botschaften, Ideen dar. Versucht, der Welt eine Idee zu geben. Einen Gedanken, eingebettet in das Gefühl, das den Künstler bewogen hat und den Betrachter einbeziehen soll. Das ist mein Ansinnen.“
Rousseau stutzte und wurde jovial:
„Ihr seid ja auch ein Genie! Eure Kunst entsteht durch Berufung und im Uneigennutz. Das ist selten genug, dass sich jemand allein der Sache widmet und nicht an den Zuschauer denkt!“
Er schnitt zwei Scheiben Brot und begann diese mit Schmalz zu bestreichen.
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* * *
Saly ging nicht auf die mokante Schmeichelei ein. Irgendetwas missfiel ihm an diesem Rousseau. Er ahnte, was es war. Dieser Herr Künstlerphilosoph war gespalten. Einerseits vom Verstand her gebildet und andererseits der Natur anheim gefallen. Das ging nicht zusammen. Auch wenn er die Botschaft in Opernkunst zu tarnen suchte. All seine Postulate für das Leben zurück zur Natur standen dem entgegen. Das Leben in der Hütte hier, ist die gleiche Farce wie auf der Bühne dort! Man kann nicht das einfache Leben in einer naturnahen Gesellschaft predigen, gekünstelt den Verführungen der Macht zuwenden und dann dazu auch noch die Kunst benutzen! Selbstherrlich und hochmütig meint Rousseau, das Orakel von Delphi zu sein. Heuchelt vernünftige Antworten, weil seine Seele allein vom irdischen Ross der Sucht nach Anerkennung gezogen wird. Ohne jegliches himmlische Gemüt. Nie wird dieser Besserwisser die wahren Ideen erblicken, zu denen ein Künstler aufzusteigen vermag!
Er begann, sich dem kleinen Männchen Rousseau gegenüber überlegen zu fühlen. Die aufgerissene Eigenerkenntnis forderte ihr Recht.
Saly resümierte laut:
„Also, dann seid ihr – bist du - kein Künstler. Und ein Wissenschaftler, ein Philosoph...“
„Du hast recht, ich wäre gerne ein Musiker oder ein Literat, bin aber ein Denker. Was ein wahrer Vernunftsmensch ist, wirst du dich fragen. Ein Denker ist jemand im Naturzustand, der weiß, dass er nichts weiß. Das versteht ihr nicht? Ich will erklären, was den wahren Vernünftigen, also den Nichtwissenden, vom schnöden Nachdenker, der meint zu wissen, unterscheidet. Der Ausgang des Übels ist, der Umgang der Gesellschaft mit dem Wissen. Man fragt zunächst, ob ein Buch unterhaltend geschrieben ist und nicht, ob es nützliche Gedanken enthält. Alle Aufmerksamkeiten und Belohnungen werden an witzige Narren verschwendet und das ehrliche, tugendhafte Nachdenken wird verkannt. Schnöde Abhandlungen gewinnen Preise und wahre Philosophie ist zu anstrengend. Man bewegt sich auf völlig unterschiedlichen Terrains. Und das auch noch abhängig vom gesellschaftlichen Stand. Um die wahre Vernunft und schöne Tugend in die Welt zu tragen bedarf es eines neuen Ausgangspunktes. Was liegt da näher, sich zurück an die Natur zu wenden?“
Rousseau ereiferte sich und musste seine Kehle spülen.
Wieder tat sich eine blasse Erinnerung bei Saly auf. Rousseau sprach offensichtlich in Worten, die er Platon entliehen hatte. Er beschloss, die Gelegenheit zu nutzen und ihm ein Schnippchen zu schlagen:
„Aber eure Abhandlung hat doch auch einen Preis bekommen, seid ihr etwa nicht tugendhaft?“
Er meinte schon vorher zu spüren, wie der Denker getroffen war. Und richtig, wütend sprang Rousseau auf:
„Man muss die Gesellschaft mit ihren eigenen Waffen schlagen, habt ihr das noch nicht verstanden?!“ Und fast schon überheblich:
„Eine musikalisch hinreißende Oper, in französischer Sprache, die jeder versteht, transportiert meine tugendhaften Gedanken...“
Und wir werden ihre Gesellschaft unterwandern, hätte er noch hinzufügen können.
Doch er traute Saly nicht.
Es klopfte an der angelehnten Türe. Rousseau stieß das Messer in den Schmalztopf, wischte sich die Hände an seinem Rock und riss die Luke auf. Dort stand jemand im Gegenlicht. Ein breiter, großer Herr füllte die gesamte Türöffnung aus. Er zog seinen Hut und stellte sich vor. Er sei Arzt und geschickt worden, um ein gewissen Monsieur Saly zu untersuchen, der wohl einen Unfall gehabt habe und um welchen man sich in gewissen Kreisen Sorgen mache. Rousseau begann, den Bader abzuwimmeln:
„Nein, wir haben keinen Arzt bestellt. Und im Übrigen, es geht Monsieur Saly ausgezeichnet, nicht wahr?“
Er drehte sich zur Lagerstätte im Dunkeln um. Sicherlich konnte der Besucher nichts im Dämmer der Hütte erkennen. Saly verhielt sich still und überlegte. Er hatte Rousseau nie zu fragen gewagt, ob dieser Madame über seinen Verbleib unterrichtet hatte. Nun war es offensichtlich. Sie wusste Bescheid. Madame hatte ihren Leibarzt geschickt. Monsieur Sénac. Sollte die Verkettung zwischen ihm und ihr jetzt durch den Kontakt mit ihrem Arzt, der sie intim kannte, aufrecht gehalten werden? Was wäre, wenn er den Mediziner abweisen würde, was sicherlich genau dem Wunsch Rousseaus entspräche? Sein Mund hatte unaufgefordert zu sprechen begonnen:
„Bitte, Rousseau. Lasst Monsieur doch eintreten. Es wäre unhöflich, ihn ohne ein Wort wieder fort zu schicken.“
„Also gut, wenn du willst.“ Unwillig gab der Gastgeber den Eingang frei.
Die massige Gestalt trat ein und tappte im Dunkeln. Er bat Rouesseau ungeduldig:
„Nun, bitte, öffnet doch eine Fensterluke, ich kann rein gar nichts erkennen. Lasst gefälligst ein wenig frische Luft hinein, es stinkt hier wie in einer Räucherkammer!“
„Rauch desinfiziert und ist der Heilung zuträglich“, behauptete Rousseau wichtigtuerisch.
Der große Mann schüttelte den Kopf. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Dämmerlicht. Er trat an das Feldbett, auf dem Saly ruhte und fragte nach dem Befinden. Da sich der Verletzte nicht das Misstrauen Rousseaus zuziehen wollte, antwortete er zu dessen Gunsten:
„Schon viel besser, dank der Heilkünste der Natur. Monsieur Rousseau hat diese ausgezeichnet an mir anzuwenden vermocht.“
Das stimmte einigermaßen. Bis auf die ewigen Kopfschmerzen und das pochende Ziehen in den tieferen Kratzern. Da der Arzt scheinbar noch gar keine Kenntnisse über den Unfallhergang hatte, wollte er natürlich zunächst wissen, was denn überhaupt die Beschwerden seinen.
„Natürlich hauptsächlich Fleischwunden“, antwortete Rousseau.
„Durch eine Waffe oder etwa ein Tier?“, lautete die folgerichtige Frage des Medicus.
Rousseau überlegte, denn er wollte seine Heilkünste nicht wegen ein paar Dornen im Gebüsch geschmälert wissen: „Wie soll ich sagen, durch, äh, eine widerliche Mauer. Aus Dornen, Widerhaken und Schlingen.“
Saly war die kuriose Antwort seines Retters unangenehm:
„Monsieur Rousseau meinen ein Dorngebüsch. Darin hatte ich mich verfangen. Bei den Befreiungsversuchen zog sich die Haut an meinem Körper einige Risse und Schrammen zu. Sorgen mache ich mir allerdings hauptsächlich um meine Hände, sie verstehen?“
Der Arzt nickte und begann aufmerksam, Fingerknochen und Handflächen zu untersuchen.
„Es ist nichts gebrochen, die Schwellungen kommen von den Wunden, die zum Glück nicht eitern. Einige Kratzer sind tief, man müsste die Haut dort eigentlich vernähen, doch in Anbetracht ihres Berufes möchte ich davon absehen. Tragen sie diese Wundsalbe hier auf, die Haut muss elastisch werden und darf nicht verhärten. Bewegen sie sich, auch, wenn dies Schmerzen verursacht. Und lassen sie frische Luft an den Körper! Gehen sie an die Sonne! Sind an anderer Stelle noch tiefere Risse zu verzeichen?“
Saly wies auf seinen rechten Oberschenkel. Der Arzt schlug die Decke zurück und schob das Nothemd hoch. Am rechten Oberschenkel klaffte eine Wunde, die mäßig eiterte.
„Mh, hier sollte man nähen. Allerdings sind die Wundränder schon leicht eingeschlagen und klaffen weit auseinender. Man hätte früher reagieren müssen. Ich kann ihnen das tote Fleisch ausbrennen, - ja, das wäre das beste.“
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