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Innenabbildungen: Klaus S. Blechner,
Die Zeche „Concordia“ in Oberhausen/Lirich mit der Bergmannssiedlung „Glück auf!“. Hier wurde Helene geboren, hier verlebte sie ihre Kindheit.
Ort der Handlung:
Oberhausen/Lirich, Zeche „Concordia“
Bergbausiedlung „Glück auf!“
Zeit:
Ende April 1906
Wie ein verspäteter himmlischer Gruß teilten die goldenen Lichtspeere einer milden Frühlingssonne das Halbdunkel der winzigen Schlafkammer der vor wenigen Minuten von ihrer vierten Tochter entbundenen Marie Luise Bandelberg und zauberten – nach einem Kontrollblick auf das Neugeborene – jetzt endlich ein schüchternes Lächeln in das immer noch mädchenhaft blasse Antlitz der Mutter.
„Ach ja, mein Fritz, ich weiß, du hast gewiss – nach drei Engeln – diesmal fest auf einen kleinen Bengel gehofft! Aber wenn ich sehe, wie viele der besten jungen Männer schon so früh in der Dunkelheit des Pütts verschwinden, um danach – nur wenige Jahre später – mit schwarzer Lunge wieder ans Tageslicht zurückzukehren, so hätte ich unserem Sohn ein solches Schicksal auch niemals gewünscht!“
„Oh meine tapfere Marie! Glaub mir, ich bin doch nur froh und dankbar, dass ihr beide hier gesund und munter seid und das Kindbettfieber dich verschont hat!“, platzte es jetzt aus Vater Friedrichs tiefstem Herzen heraus.
Es gab in diesem Moment nur die pure Dankbarkeit und die größte Erleichterung für den jungen Familienvater und Steiger der Zeche „Concordia“ in Oberhausen an diesem milden Frühlingstag, dem 26. April 1906!
Das geradezu magersüchtige rote Ziegelhäuschen mit Stallanbau der Bandelbergs in der neuen Bergbausiedlung „Glück auf!“ der Zeche „Concordia“ im Stadtteil Lirich platzte jetzt endgültig aus allen Nähten, denn neben den nun vier Bandelberg-Töchtern und ihren Eltern musste es auch noch der hochbetagten Steigerwitwe Anna Burdenski und ihrer geliebten „Kosa Lisa“, einer schneeweißen Milchziege, Platz zum Leben bieten.
Das eineinhalbgeschossige dürftig eingerichtete Bergarbeiterdomizil mit der Hausnummer 312 war längst bis in die letzte schräge Dachkammer ausgebucht und der handwerklich begabte Familienvater stellte seit Langem Überlegungen an, ob er nicht den „Heuboden“ im Anbau in ein weiteres „Kinderzimmer“ verwandeln könnte.
„Im nächsten Urlaub werde ich mit ‚Jupp‘ und ‚Theo‘, meinen besten Kumpels, hier anrücken, damit ‚Lieschen‘ und ‚Friedchen‘ endlich aus dem feuchten Keller herauskommen!“
Dieses Versprechen gab er nun seiner Marie und der staunenden Hebamme bekannt, und die vierfache Mutter wusste, auf das Wort ihres Friedrich war schon felsenfest Verlass!
„Schau, Fritz, welche hohe Stirn unser kleines Schätzchen schmückt: Es wird ganz gewiss eine sehr gescheite und praktische Frau!“, stellte Mutter Marie nun ihre neugeborene Daumenlutscherin dem stolzen Vater und den älteren Töchtern vor.
„Ich fände, ‚Helene‘ wäre ein recht passender Name für unser Nesthäkchen, oder?“
„Nun lassen wir es mal gut sein mit ’ner Lene Bandelberg“, brummte Vater Friedrich zustimmend.
Und damit hieß die hübsche vierte Tochter der Bandelbergs „Helene“, welch hohe Verpflichtung!
Die dunkelblond gelockte und quicklebendige stupsnasige Lene erwies sich in der Tat als ein sehr verständiges, doch dabei eigenständiges Mädchen, ohne größere Probleme in der häuslichen wie schulischen Erziehung: Nach der 6. Klasse der Volksschule Oberhausen/Lirich kam Helene mit einem Zeugnis nach Hause, das den Notendurchschnitt aller Schwestern deutlich übertraf.
„Nur in Reli hat mir der alte Weißbrot eine blöde Vier verpasst, weil ich ihm nicht glauben wollte, dass die ganze Welt in nur sieben Tagen entstanden sein soll!“
„Dieser Mensch ist ungerecht und nie im Leben ein guter Christ!“, entrüstete sich Helene. „Der hat doch nur seine ganz speziellen Lieblinge, nämlich die, die ihm immer wie Papageien alles nachplappern! Pfui Teufel, welch ein Schmierentheater, aber nicht mit mir!“
Helene wollte sich und ihren Idealen jedenfalls treu bleiben, ganz gleich wie der Herr Prediger ihre ganz persönliche Einstellung zur „Hölle“, zum „Himmel“ – und das viele Unrecht dazwischen – bewerten und verurteilen mochte.
Auf diese Weise hatte diese schultägliche Auseinandersetzung mit dem greisen Prediger Helenes Willenskraft und ihr Rechtsbewusstsein schon früh geweckt und ihr damit offenbar eine überaus eigenständige Persönlichkeit beschert.
Helenes ältere Schwester Elfriede (das „Friedchen“) war – vermutlich durch einen Geburtsschaden – ein wenig geistig zurückgeblieben.
Sie konnte demzufolge erst mit 8 Jahren eingeschult werden und hatte auch danach erhebliche Schwierigkeiten, das Lesen, Schreiben und Rechnen zu erlernen …
Helene und ihre Schwestern halfen ihr, so gut sie nur konnten, aber im rauen Schulalltag war „Friedchen“ natürlich ein leichtes Opfer von Hohn, Spott und Ausgrenzung:
„Seht doch mal das Friedchen, kein Hirn und kein Tittchen!“, intonierten eines Tages einige fiese Rüpel von „Rudis Klopperbande“, als Elfriede gemeinsam mit ihren Schwestern gerade den Heimweg von der Liricher Volksschule zu ihrem Elternhaus antrat.
„So, das reicht! Die knöpfen wir uns vor! Luise, hol dort drüben vom Kohlenhändler einen Eimer mit Eierkohle! Anni, schnapp du dir dort den alten Straßenbesen und ich werde die große Plattschüppe schwingen!“, dirigierte unmissverständlich Helene jetzt ihre Schwestern.
Und innerhalb weniger Augenblicke hatte sich der kleine Trupp braver Schulmädchen in ein kampfbereites „Trio infernale“ zur Verteidigung ihrer behinderten Schwester verwandelt.
Dieses furiose „Dreigestirn“ versetzte ab sofort die „Saujungs“ von „Rudis Klopperbande“ mit gezielten Eierkohlewürfen sowie gekonnten Besenstiel- und Schüppenattacken in wahrhaft panischen Schrecken, sodass sie unter dem militärischen Rückzugs-Kommando Rudis, nämlich „Volle Deckung und dann: Rette sich, wer kann!“ blitzartig die Flucht antreten mussten.
Kein Wunder, dass unsere Helene von den Liricher Kindern bald als „Kriemhild von Bandelberg“ geadelt wurde.
Die beste Waffe aber gegen eine geschlechtliche Unterdrückung – so glaubte Helene fest – ist wohl die Bildung:
Und so quengelte und drängelte sie so lange bei ihren Eltern, bis diese schließlich ihre Genehmigung zum Besuch einer höheren Bildungsanstalt, einem sogenannten „Lyzeum“ für Mädchen im Alter von 12–18 Jahren erteilten!
Am 1. April 1918 wurde Helene Bandelberg – übrigens als einziges Mädchen ihres Jahrgangs aus der Bergmannssiedlung – ins Schülerverzeichnis des ersten „Lyzeums“ in Oberhausen aufgenommen.