Er rief:
„Befreit mich von ihr, Mächte der Kunst!
Nie mehr will ich haben einen Gott neben euch!
Huldigen werde ich dir, Apoll, immerdar!“
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* * *
Ein Kampf auf Leben und Tod begann. Enger und fester kletteten sich die dornigen Lianen in das feiste Fleisch. Bis zur Bewegungslosigkeit verfangen. Jeder Versuch, sich zu fallen zu lassen, scheiterte kläglich. Die Schlingen trotzten der Schwerkraft. Ach, du liebe Sehnsucht. Im Sterben auf den weichen Waldboden sinken. Wie es sich hängt, einer Marionette gleich an den letzten Fäden der Kleidungsreste hoch oben im Gezweig! Wie langsam verging doch die Zeit verging... Verzweifelt strampelnde Töne entwichen seiner Kehle, gleich den Wehlauten eines verwundeten Tieres. Bis zur Unkenntlichkeit zerkratzte Klagen. Lasst mich in meiner Seele baumeln, bis zur Ohnmacht sollt ihr mich hängen, damit ich klar sehend bleibe und nie wieder der Versuchung anheim falle. Gebt mir zu erkennen, wann es soweit ist. Sollte mein Leid der inneren Reife noch nicht genügen. Liefert mich so lange aus, bis es zerreißt, das Band zwischen ihrer Welt und meiner. Oh Apoll, sprich mein Orakel, ich erkenne mich selber und entsage dem Übermaß! Nimm mich, dein Opfer! Ein letztes Stöhnen.
Das Winden hatte aufgehört und unkontrolliertes Zucken begann. Der Körper wehrte sich beharrlich. Der Geist gab sich hin. Plötzlich, im Vorspiel der erlösenden Ohnmacht, schaltete sich eine belästigende Störung ein. Eine Stimme, von der Seite, aus dem Wald:
„Hallo? Wer da? Mensch oder Tier?“ , hörte Saly und wurde aus seinem Opfertaumel gerissen. Sollte er etwa zugeben, dass er ein Mensch sei? Sofort war der Verstand zur Stelle: Ich bin dein Geist des Lebens. Du willst gerettet werden. Glaube an das Irdische. Vertraue deinem Menschsein. Er stöhnte weiter, in der Hoffnung, dass der Nahende sich abschrecken ließ.
Dieser stand nun vor der Barriere aus wildem Gestrüpp. Ins tiefe Innere führte eine Spur blutiger Stofffetzen zu irgendeinem Wesen. Beim näheren Hinsehen bot sich dieser schreckliche Anblick: Gekreuzigt hing ein zerschundener Körper in den stechenden, bohrenden Schlingpflanzen, strampelte mechanisch in devoter Wehrhaftigkeit und gab Weinlaute von sich.
Der Fremde rief:
„Monsieur, ich helfe euch! Selbst, wenn ihr ein Räuber seid, meine Menschenwürde befiehlt es mir!“
Vorsichtig näherte sich der Helfer dem Gestrüpp. Blieb ratlos davor stehen, kratzte sich am Haupt und überlegte angestrengt. Der ersten Versuch, eine Ranke bei Seite zu halten scheiterte schmerzhaft. Blut troff aus der Daumen - und Zeigefingerkuppe der rechten Hand. Der Mann inspizierte die angegriffenen Stellen, zog einen Dorn und leckte sich die Wunde:
„Verflixt noch mal, da ist ja kein Durchkommen!“
Wieder überlegte er. Um sich nicht selber im Gestrüpp zu verfangen, musste er ein Werkzeug haben. Aber welches? Er besaß eine Säge, eine Axt, einen Keil und ein Messer – aber hier war robusteres von Nöten. Eine Waffe! Am besten ein Schwert. Selbst ein Degen würde nicht ausreichen. Er musste sich ein Schwert besorgen! Als er sich suchend umsah, fand er einen stabilen Ast. Ja, dieser musste es tun. Probehalber durchschnitt er die Luft in kräftigen Schlägen. Das Wehklagen echote.
„Haltet stand, mein Herr. Ich werde mich zu euch durchschlagen!“
Er würde den Ast wie eine Machete im Dschungel benutzen.
„Ha!“, Schlag. „Ha!“, Schlag. „Da hast du's, Elender!“, Schlag.
Mitten im Gefecht stand der Held. Schlug um sich wie ein Wilder, kämpfte sich nach vorn. Sehr kraftvoll, untermalte seine Bemühungen mit wilden Tönen, noch ausladendenderen Gebärden und schien dabei recht glücklich. Dass seine einfache Kleidung arg litt und er selber viele Kratzer davon trug, störte den Verrückten nun nicht mehr.
Endlich kam er beim Verwundeten an:
„Oh! Sie hat es ja arg getroffen! Das Blut spritzt ja nur so aus ihnen heraus! Wie widerlich!“ Angeekelt verzog er das Gesicht und wandte sich brüsk vom Leidenden ab. Am liebsten wäre er davon gelaufen! Zurück durch die Schneise, ab in den Wald. Man sollte sich doch lieber um seine eigenen Wunden kümmern, die man sich wegen diesem ...diesem ….Wer auch Immer zugezogen hatte! Nur fort! Lasst die Wölfe ihr übriges tun! Der Gang der Natur. Warum sollte er diesen beeinflussen müssen?
Saly hob das geschundene Haupt und sah den vermeintlichen Retter wehklagend an. Er stöhnte:
„Es soll euer Schaden nicht sein, guter Mann...“
Nein! Sei still! Ärgerlich schalt er sich selber. Wie kann man so sehr am Leben hängen, dass für dessen Rettung Lohn verspricht... Schwankend schielte der Angesprochene zwischen Fluchtbereitschaft und Zorn zur Kreatur hinüber:
„Was?! Ihr wollt mich erpressen? Mir einen Handel unterjubeln? Damit stellt ihr meine Moral bis aufs Äußerste in Frage! Wagt es ja nicht, meinem Gewissen Fesseln anzulegen!“
Wütend drosch er wieder auf das umliegende Gestrüpp ein. Saly versuchte sich zu ducken, so nah sauste der Ast an seinen Ohren vorbei.
Er begann zu betteln:
„Los, schlag mich tot, bitte!“
Da hielt der Fremde abrupt inne. Nein, ein Mörder war er nicht. Seine in Armut geborenen Kinder hatte er nicht vom Leben befreit, sondern weggegeben. Nichts besseres hatte er ihnen bieten können als Hoffnung. Die musste er auch diesem Gehängten geben. Hier war etwas gut zu machen.
Er sah dem Verwundeten tief in die Augen und sprach leise auf ihn ein:
„Das Leben ist schön. Die Luft ist rein. Das Wasser sprudelt. Die Sonne wärmt. Die Erde tröstet.“ Immer wieder. Das Opfer zuckte nicht mehr. Selig war es eingeschlafen.
Wie kann ich den Körper allein aus den Fängen der Dornen befreien? Der Mann überlegte und murmelte vor sich hin:
„Ich muss ihn entkleiden. Ganz vorsichtig muss ich die Stofffetzen lösen. Dann kann ich mir die Lappen um die Hände wickeln und ihn vom Rest der Ranken befreien.“
Der Retter hielt inne. Ließ die Waffe sinken und zu Boden fallen.
„Ja, so könnte es funktionieren. Und wenn ich dich befreit habe, dann benutzen wir die Bresche, die ich geschlagen, für den Rückzug.“
Gesagt, getan. Voller Tatendrang machte sich der Mann an die Arbeit. Riss hier und da angeekelt blutige Stofffetzen entzwei, bandagierte sich damit die Finger und zog an den Ranken. Saly ließ alles leblos mit sich geschehen.
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* * *
Aus dem Traum wachte er auf. Alles an ihm schmerzte, seine Haut brannte und blutete. Mit dämmrigen Blicken schaute er sich um. Den Kopf wagte er nicht zu bewegen, noch seinen Körper zu verlagern. Ein schlichter Raum mit einigen wenigen Holzmöbeln. Im Herd brannte ein Feuer, das dämonisch an den aus Holzstämmen gerichteten Wänden tanzte. Qualm in der Hütte. Das Knistern der Flammen. Dampf aus dem Kessel. Unordnung. Zwei Türen. Wohin? Wo? Ruhe, Waldgeräusche. Saly schloss erneut die Augen.
Irgenwann ein Rumpeln und Poltern.
„Entschuldigung, Monsieur, ungeschickt fiel mir beim Öffnen der Tür ein wenig Feuerholz vom Arm. Ihr seid erwacht?“
Geschäftig wurden Schiete aufs Feuer gelegt. Noch mehr Rauch stieg auf.
„Nachher werden wir mit diesem Kräutersud,“ er wies auf den Kessel, „eure äußeren Wunden reinigen.“
Eine Schöpfkelle tauchte in den Kessel. Schwappend ergoss sich Tee in den Becher.
„Und auch innerlich soll dieser angeblich Linderung bewirken. Deshalb trinkt erst einmal.“
Der Becher direkt unter des Verwundeten Nase.
„Darf ich euch ein paar Schlucke einflößen?“
Ein brodelnd kochendes Getränk. Da Saly der heiße Dampf direkt in die Augen stieg, flossen Tränen. Gerührt wurde sein Haupthaar gestreichelt. Der Geschundene verzog die Nase und versuchte den Kopf ein wenig zur Seite zu drehen. Eine instinktive Abwehrhaltung.
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