Der Herr hatte ihn in ihre Obhut gegeben und verlangte jetzt sicher, dass sie sich seiner würdig erwiesen.
Omar ging in den Tempel und wollte mit Gott reden, doch der Herr schwieg.
Das aber konnte und durfte er den anderen nicht sagen, Panik wäre ausgebrochen.
Und so studierte er in seiner Verzweiflung die alten, überlieferten Schriften und stieß...auf das Unfassbare.
Da war die Rede von Teilung, Aufspaltung, Übergang.
Von einer Zeremonie, so unwirklich, so bizarr, so unheimlich, dass ihm fröstelte.
Und doch: Mit ihr, dessen war er sich sofort sicher, würden sie den Kristall, der einst eine Träne Gottes war, vor den Fremden und ihren bösen Absichten beschützen können.
Alles, was dazu nötig war, waren Mut, Vertrauen…und zwölf Freiwillige.
Also scharrte er all die um sich, von denen er annahm, dass sie die gewaltige Tragweite dessen, was er ihnen erzählte, auch verstanden.
Ob das am Ende auch wirklich alle taten, sollte er nie erfahren, aber am Ende seiner Ausführungen hatte er zwölf Freiwillige, die bereit waren, die Zeremonie durchzuführen.
Mitten hinein in ihren Entschluss jedoch platzte die Nachricht, dass die Fremden bereits wieder gesichtet wurden und allen war sofort klar, dass sie sich beeilen mussten.
Die zwölf Freiwilligen, neun Männer und drei Frauen, umringten den Kristall in einem weiten Kreis und Omar sprach die geheimnisvollen und heiligen Worte, die ihnen überliefert wurden.
Und das Unglaubliche geschah tatsächlich: Der Kristall begann zu glühen, zu pulsieren...zu leben. Er teilte sich, in zwölf gleiche Teile, die umschlossen wurden, von einer halbdurchsichtigen Hülle. Zum Schutz, das wusste Omar, denn die Überlieferungen beinhalteten auch eine Warnung: Der Kristall war ein reiner Funken göttlicher Energie und somit nicht für Menschenhand gemacht. Daher durfte niemals eine direkte Berührung erfolgen. Sonst würde Gottes Fluch über die Menschen kommen.
Die Teile des Kristalls wanderten langsam zu den Männern und Frauen, die ihn umringten und verharrten wenige Zentimeter vor ihren Brüsten.
Was dann geschah, überstieg die geistigen Fähigkeiten der meisten unter ihnen bei weitem, denn urplötzlich traten ihre Herzen, ihre eigenen pulsierenden, blutigen, lebenden Herzen aus ihren Körpern, entfernten sich von ihnen, trafen auf die Kristallteile, schwebten durch sie hindurch und vereinigten sich schließlich alle in einem einfachen, wertlosen, braunen Kristall, den Omar besorgt hatte und der fortan ihre Herzen beschützen sollte.
Dann trat der Kristall in ihre Oberkörper ein, übernahm dort den Platz ihrer Herzen und offensichtlich auch ihre Funktionen, denn niemand von ihnen nahm dabei Schaden.
Wenn nun die Fremden kommen würden, würden sie den eigentlichen Kristall, die Träne Gottes, nicht wiederfinden und schließlich wieder fortgehen.
Dann wollte Omar mit seinem Volk an einen neuen Ort wandern, den Gott ihnen noch zeigen würde.
Dort, so sollte es sein, würden sie die Zeremonie wieder rückgängig machen, die tapferen Männer und Frauen ihre Herzen zurückerhalten, sich der Kristall wieder vereinen und weiterhin das Leben und das Wirken seines Volkes bestimmen, bis Gott sie auf ihre vorbestimmte Mission entsandte.
Ja, so würde es sein.
Und die Fremden kamen tatsächlich.
Aber sie kamen viel zu früh...
Die Zeremonie ging nur langsam voran und der Austausch der Herzen gegen den Kristall erfolgte nicht gleichzeitig, sondern nacheinander.
In dem Moment aber, als das letzte Teilstück vor der Brust des Mannes verharrte und sich sein eigenes Herz aus seinem Inneren löste, konnte man außerhalb des Tempels bereits aufkommenden Tumult hören.
Omar wurde sofort nervös, doch konnte er nur zuschauen, wie das letzte Herz seinen Platz in dem braunen Kristall einnahm, der jetzt im Inneren zu lodern begann.
Kaum war dies geschehen, griff Achmed, Omars Schüler, nach ihm und nahm ihn an sich. In seinen Augen erkannte Omar sehr deutlich außer Angst auch das, was er vorhatte. Er wollte den Kristall der Herzen von hier fortbringen, bevor die Fremden erschienen.
Omar nickte ihm zu und Achmed machte sich auf den Weg durch den Hinterausgang.
Inzwischen hatte die Träne Gottes wieder begonnen auf den letzten Freiwilligen zu zu schweben, doch nur einen Zentimeter, bevor sie ihn erreicht hatte, wurde das Tempeltor durch eine wuchtige Explosion beinahe aus den Angeln gerissen.
Omar fuhr herum, erkannte sofort den Fremden wieder, in dessen Augen das dunkle Feuer der Gier loderte.
Und innerhalb eines einzigen Wimpernschlages änderte sich alles, wofür sie je gelebt hatten, wurde ihr Glauben, ihre Hoffnung, ihre Bestimmung zerstört und ihr Leben für immer verändert.
Denn ohne auch nur zögern, richtete der Fremde seine Waffe auf den letzten Freiwilligen, drückte ab und tötete ihn mit einem Kopfschuss, noch bevor der Kristall in ihn übergegangen war.
Omar reagierte schnell und befahl den anderen Anwesenden, zu verschwinden, während er sich selbst den Fremden stellte, die jedoch scheinbar nur noch einen Blick für den vor der Leiche des Mannes in der Luft verharrenden letzten Teilstück des Kristalls hatten.
Doch dem war nicht so, denn nur wenige Momente später kamen noch mehr Fremde in den Tempel und mit ihnen Omars gesamtes Volk.
Einer der Fremden sprach mit ihrem Anführer, der ihm zunickte, woraufhin der andere sich zwei weitere Männer nahm und den Tempel wieder verließ, wo sie sich auf ihre Pferde setzten und eilig davon ritten.
Der Anführer der Fremden kam auf Omar zu, grinste ihn dabei verächtlich an und hob dann seine Hand, um den Kristall zu ergreifen.
Omar aber packte seinen Arm und hielt ihn zurück.
Wieder sah ihn der Fremde an, grinste, seine Augen sprühten nackten Hass, dann drehte er sich zu seinen Leuten um und nickte.
Wenige Sekunden später starben etwa dreißig Unschuldige unter einem schrecklichen Kugelhagel.
Da niemand von ihnen je gelernt hatte, sich zu verteidigen, standen dem auch alle anderen völlig hilflos gegenüber.
In die allgemeine Panik hinein mischte sich der erneute Versuch des Anführers, das letzte Teilstück des Kristalls zu ergreifen, doch wiederum verhinderte Omar dies, obwohl er selbst nicht wusste, wie er den Mut dazu aufbrachte.
Es war auch das letzte, was er je fühlen sollte, denn nur einen Moment später traf ihn ein wuchtiger Messerstich in seine Brust.
Noch bevor er zu Boden fiel und langsam verblutete, nickte der Anführer ein zweites Mal und der nachfolgende Kugelhagel erfasste sein gesamtes Volk.
Während sich tödliche Dunkelheit über ihn ausbreitete, konnte Omar sehen, wie so viele seiner Freunde ihm folgen würden.
Aber noch etwas anderes erkannte er: Die elf Freiwilligen, sie befanden sich inmitten des Kugelhagels und gingen, wie alle anderen auch, zu Boden, doch als das schreckliche Geräusch von Kugeln und Schreien erstarb, standen sie wieder auf.
Auch der Anführer der Fremden sah es und in seinem Gesicht wich der überheblichen Selbstsicherheit zum ersten Mal nackte Angst.
Hier geschah etwas, das er sich nicht im Entferntesten erklären konnte und deshalb konnte er zunächst auch nicht darauf reagieren und dann auch nur, indem er weitere Kugeln auf seine Opfer abfeuern ließ.
Aber auch diese zweite Salve tötete sie nicht, was bei ihnen, wie schon nach dem ersten Kugelhagel, nicht minder geschockte Gesichter erzeugte, wie bei ihren Peinigern.
Doch keiner von ihnen hatte lange genug Zeit, es auch nur im Ansatz zu begreifen, denn urplötzlich begann das letzte Teilstück des Kristalls gleißend hell zu leuchten.
Der Anführer der Fremden in unmittelbarer Nähe schrie erbärmlich, als das Licht seine Augen verbrannte. Mehr kam jedoch nicht mehr über seine Lippen, weil sich nur einen Wimpernschlag später, die Energie im Inneren des Kristalls wie eine Bombe ausbreitete, mit irrsinniger Geschwindigkeit über alle Anwesenden hinweg raste und alles dabei zu Staub verbrannte, bis...ja, bis auf diese elf Menschen, die statt ihrer Herzen einen weiteren Teil des Kristalls in sich hatten und...Omar!
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