„Ich freue mich sehr, dass er sich trotz seiner jungen Jahre auf dieses abenteuerliche Unterfangen eingelassen hat“, spricht Richter weiter. Eine Sekunde irritiert mich das „er“ in seinem Satz, aber vermutlich bezieht er sich immer noch auf den „jemand“, und sowieso höre ich gar nicht richtig hin, denn ich bin bereits im Aufstehen begriffen, als Herr Richter seine Rede zum finalen Höhepunkt bringt. „Aber jetzt genug der vielen Worte. Hiermit stelle ich Ihnen den neuen Partner vor: meinen Neffen, Felix Süßkind!“
Ich schieße aus meinem Stuhl hoch. „Ja, vielen Dank, Herr Richter! Ich ...“, setze ich überschwänglich an, bis mir auffällt, dass mein Gegenüber ebenfalls aufgestanden ist und mich fragend anblickt. Mitten im Satz halte ich inne. Ein peinlich berührtes Schweigen senkt sich über den Raum. Vorsichtig sehe ich in die Gesichter der anderen, die mich besorgt bis verstört mustern. Erst da dringen Richters letzte Worte in mein Bewusstsein. Hiermit stelle ich Ihnen den neuen Partner vor: meinen Neffen Felix Süßkind! Das ist definitiv nicht mein Name. Er hat nicht mich zu seiner rechten Hand gemacht, sondern das Armani-Model vor mir, das die unangenehme Stille schließlich mit einem leisen Räuspern beendet.
„Möchten Sie etwas sagen, Frau Herz?“
Woher kennt er meinen Namen?, schießt es mir kurz durch den Kopf, aber dann kann ich es mir schon denken. Er muss sich unsere Homepage angesehen haben, auf der alle Mitarbeiter der Kanzlei interessierten Mandanten mit Foto vorgestellt werden. Wahrscheinlich zusammen mit seinem Onkel.
„Da, sieh sie dir gut an, mein Junge“, wird Richter gesagt haben und auf mein Bild gedeutet haben. „Das ist die dumme Trine, die glaubt, ich würde sie zur Partnerin machen.“ Und dann werden sie sich gemeinsam über mich kaputtgelacht haben.
Verzweifelt versuche ich zu schlucken. Das hier ist mit Abstand das Demütigendste, das ich je erlebt habe. Ich kann bloß noch versuchen, die erniedrigende Situation so würdevoll wie möglich zu beenden.
„Ja“, bringe ich endlich trotz meiner staubtrockenen Kehle heraus. „Herzlich … willkommen.“
„Danke“, erwidert er konfus, und ich lasse mich langsam mit zittrigen Beinen zurück auf meinen Stuhl sinken.
„Alles in Ordnung?“, raunt Yildiz mir zu, ihre sorgfältig gezupften, schwarzen Augenbrauen beunruhigt zusammengezogen. Halb nicke ich, halb schüttele ich den Kopf, was in einer unkoordinierten Kreisbewegung endet. Bevor sie Bedenken über meinen Geisteszustand äußern kann, ergreift der frisch gekürte Partner das Wort.
„Mein Onkel hat das meiste ja schon vorweggenommen, aber ich möchte mich natürlich trotzdem noch einmal kurz vorstellen“, höre ich ihn sagen. Danach rauscht der Rest seiner Rede an mir vorbei. Nur einzelne Bruchstücke schaffen es, bis in mein Gehirn vorzudringen. Dass er bis vor Kurzem in einer Kanzlei beschäftigt war, die sich auf Eherecht spezialisiert hat, beispielsweise. Na toll, ein Scheidungsanwalt! Das wird ja immer besser. Nicht genug damit, dass er den Posten bekommen hat, der mir zugestanden hätte, wahrscheinlich wird er auch noch versuchen, mir die Mandanten abspenstig zu machen. Das sagt er natürlich nicht, sondern behauptet, er freue sich auf eine fruchtbare Zusammenarbeit (ja, er benutzt tatsächlich das Wort „fruchtbar“!) und faselt etwas von seiner Tür, die uns immer offenstehen würde. Mir wird schlecht von all dem Süßholzgeraspel. Vielleicht macht auch nur mein Kreislauf schlapp, nach dem Schock auf nüchternen Magen. Als er sich endlich wieder niederlässt, fühle ich mich leer und ausgelaugt. Wie soll ich jetzt zurück in mein Büro gehen und mein Tagwerk aufnehmen, als sei nichts passiert? Wie soll ich mit Tatkraft an meine Arbeit gehen, wenn es kein Ziel mehr gibt, das ich vor Augen habe?
„Vielen Dank, Felix“, sagt Herr Richter anschließend, dessen Stimme wie aus weiter Ferne an meine Ohren dringt. „Wir haben ja heute noch ein weiteres Mitglied in unserer Runde willkommen zu heißen“, wendet er sich an die Vollbusige neben ihm. Sie beginnt sich ebenfalls vorzustellen. Auch ihre Worte erreichen mich nicht. Ich fühle mich betäubt, als sei ich nicht Teil des Geschehens. Wie bei einem Fernseher, der ohne Ton läuft, beobachte ich, wie sich ihre Lippen bewegen und sie etwas sagt, das die anderen zum Lachen bringt. Schließlich übergibt sie wieder an unseren Chef. Ich bin noch immer nicht aufnahmefähig. Erst als Yildiz meinen Arm berührt, wird mir bewusst, dass soeben mein Name gefallen ist und Herr Richter zu mir schaut.
„Wie bitte?“
Ein winziger Funken Hoffnung lodert in mir auf. War am Ende alles nur ein dummer Witz? Oder will er mich zur zweiten Partnerin ernennen und hat sich die Überraschung bis zum Schluss aufgehoben?
„Ich sagte, ich dachte an Sie, Frau Herz.“
Schlagartig erwache ich aus meiner Trance. „Wobei dachten Sie an mich?“, frage ich aufgeregt.
Er seufzt ungeduldig. „Daran, dass Sie Frau Weidemanns Ausbilderin werden.“
Miss Busenwunder strahlt mich an. Ich sacke in mich zusammen. Das war's. Ein für alle Mal.
„Sicher“, bringe ich irgendwie hervor und erhebe mich. Plötzlich will ich nur noch raus. Aus diesem Raum, fort von den beiden Männern, die so mir nichts, dir nichts meinen großen Traum zerstört haben. „Wäre das dann alles?“
Das Lächeln der Referendarin erstirbt, Richter nickt konsterniert.
„Ja, das wäre es soweit.“
„Gut. Ich habe nämlich noch zu tun“, sage ich knapp und steuere die rettende Tür an. Das Letzte, was ich vor dem Hinausgehen sehe, ist das dumme Gesicht von Carsten Naumann. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es nicht mein eigenes ist, das sich in seinen Augen spiegelt.
Kaum habe ich die Tür meines Büros hinter mir geschlossen, spüre ich, wie sich meine Kehle so feste zuschnürt, dass ich beinahe keine Luft mehr bekomme. Normalerweise kann ich mich sehr gut beherrschen. Ich bin kein Mensch, der schnell weint. Heute kostet es mich viel Kraft, nicht die Kontrolle zu verlieren. Krampfhaft bemühe ich mich, die Tränen zu zügeln, und komme mir an meinem Arbeitsplatz so verloren vor wie nie zuvor.
Ein Klopfen an der Tür lässt mich schließlich zusammenfahren, nachdem ich minutenlang bewegungslos aus dem Fenster in den Regen gestarrt habe. Benommen drehe ich mich um. Es ist Richter. Wer sonst? Ungefragt tritt er ein. Ich nehme all meine Kraft zusammen und schlucke den gewaltigen Kloß in meinem Hals herunter.
„Ja?“, frage ich. Meine Stimme hört sich hohl an, aber wenigstens zittert sie nicht. Ganz gleich, was er mir zu sagen hat, ich muss in jedem Fall Haltung bewahren.
„Frau Herz, dürfte ich erfahren, was Ihr Auftritt gerade eben zu bedeuten hatte?“
Das fragt er noch? Hat er vielleicht geglaubt, ich würde ihm vor Dankbarkeit, dass er sich gegen mich entschieden hat, um den Hals fallen?
„Tja, Ihre … Neuerungen kamen für mich etwas überraschend“, antworte ich sarkastisch.
Seine Augenbrauen schieben sich nach oben. „Ich hatte Ihnen doch gesagt, dass ich es gleich nach den Ferien offiziell machen würde.“
„Da wusste ich auch noch nicht, dass Sie Ihren nie erwähnten Neffen aus dem Hut zaubern würden!“ Erschrocken beiße ich mir auf die Lippen. Seinen Vorgesetzten anzubrüllen fällt ganz sicher nicht unter „Haltung bewahren“.
„Es bestand bisher auch keine Notwendigkeit, ihn zu erwähnen“, erwidert er, keineswegs zornig, sondern mit diesem sanft-beruhigenden Unterton, den im Film die Polizisten anschlagen, wenn sie zu einem Gangster sagen: „Nehmen Sie die Waffe herunter!“ Auf mich wirkt er alles andere als beruhigend.
„Könnten Sie mir dann bitte mal erklären, was unsere Gespräch vor den Ferien zu bedeuten hatte? Warum Sie mich gefragt haben, ob auf mich Verlass sei?“, presse ich wütend hervor.
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