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Nachdem ich auf mein übliches Frühstück ausnahmsweise verzichtet habe, weil ich vor lauter Nervosität keinen Bissen herunterbekommen hätte, breche ich früher als gewöhnlich auf. Von meiner Wohnung in der Stadtmitte zur Kanzlei brauche ich knapp zwanzig Minuten. Obwohl ich heute gut durchkomme, bleibt mir genügend Zeit, noch einmal meine kleine Antrittsrede durchzugehen, die ich mir in weiser Voraussicht gedanklich zurechtgelegt habe. Ich werde mich kurz halten, aber ich möchte die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, mich bei Herrn Richter dafür zu bedanken, dass er mir sein Vertrauen schenkt. So recht kann ich mich allerdings nicht auf meine vorformulierten Worte konzentrieren. Immer wieder schweife ich ab und muss daran denken, wie gut es sich anfühlen wird, heute Abend heimzukommen und die endgültige Gewissheit zu haben, es geschafft zu haben. Ich kann es kaum abwarten, meiner Mutter davon zu erzählen. Wenigstens sie möchte ich mit den Neuigkeiten überraschen, nachdem ich an Silvester schon alles vor meiner Familie und Ben ausgeplaudert habe. Sie wird so stolz auf mich sein. Von Beginn meines Studiums an hat sie immer an mich geglaubt und mir versichert, aus mir würde einmal eine grandiose Anwältin werden. Ganz im Gegensatz zu meinem Vater, der mir nicht zutraute, mich in der Welt der Justiz bewähren zu können. Dabei war er streng genommen sogar schuld daran, dass ich schon lange vor dem Abitur beschlossen hatte, Scheidungsanwältin zu werden.
Meine Eltern trennten sich, als ich neun war. Für die beiden war es nach den monatelangen Streitereien und Phasen eisigen Anschweigens sicher die beste Lösung. Für mich brach eine Welt zusammen. Aus unserem Haus zog unsere Mutter mit uns in eine Wohnung, in der Luna und ich uns ein Zimmer teilen mussten. Meinen Vater sah ich nur noch jedes zweite Wochenende, und bedeutende Feste wie Geburtstage und Weihnachten fanden ohne ihn statt. Man kann ihm nicht vorwerfen, wir wären ihm egal gewesen. Ihm waren nur andere Dinge wichtiger geworden. Seine neue Freundin zum Beispiel, die er uns eines Tages vorstellte. Eine Frau, die jung und blond und schön war und die versuchte, Luna und mich mit Eiscreme zu bestechen, damit wir sie gernhatten. Ich durchschaute ihre Masche sofort und war danach nicht mehr allzu traurig darüber, Papa nicht mehr so häufig sehen zu können. Erst viel später erfuhr ich von meiner Mutter, dass die Scheidung in eine regelrechte Schlammschlacht ausgeartet war. Am Ende hatte sie ohne das gemeinsame Haus und mit einem Bruchteil des Vermögens dagestanden, das sie mit meinem Vater zusammen angespart hatte. Das war der entscheidende Auslöser für meinen Entschluss gewesen, mich einmal auf Eherecht zu spezialisieren. Ich wollte dafür sorgen, dass keiner Frau ein solches Unrecht widerfahren sollte wie meiner Mutter. Ich wollte dazu beitragen, dass keine Scheidung den Kummer und das Leid verstärkte, die das Ende einer Ehe ohnehin mit sich brachten. Wer sich von mir scheiden ließ, sollte das Gefühl haben, dass die Gerechtigkeit gesiegt hatte.
Vielleicht hätte ich es so auch meinem Vater erklären sollen, dem ich nur widerwillig von meinem Vorhaben berichtete, Jura zu studieren. Mein Verhältnis zu ihm war stark abgekühlt, seit er sich von Mamas Geld eine Finca auf Mallorca gekauft hatte und es sich dort mit seiner neuen Frau gutgehen ließ.
„Anwältin sein bedeutet nicht nur, Paragraphen auswendig zu lernen“, versuchte er damals, mich zu belehren. „Du musst Entscheidungen treffen können, dich für deine Mandaten einsetzen, vor Gericht selbstsicher auftreten.“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist doch alles nichts für dich.“
Immerhin, für zu dumm hielt er mich nicht. Er wusste, dass mir das Wälzen von Büchern und stundenlanges Pauken nichts ausmachte. An der Praxis würde ich scheitern, so glaubte er. Mir würde ganz einfach das nötige Durchsetzungsvermögen fehlen. Ein Mäuschen wie ich würde in einer von Männern dominierten Branche sang- und klanglos untergehen. Beinahe hätte er es geschafft, mich zu überzeugen. Hatte ich wirklich das Zeug dazu, Gesetze zum Vorteil meiner Mandanten auszulegen? War ich stark genug, männlichen Kollegen die Stirn zu bieten?
„Klar schaffst du das!“, ermutigte mich Luna. „Guck dir Ally McBeal an. Die lässt sich von den Typen auch nichts gefallen. Was die kann, kannst du schon lange!“
Die Fernsehserie war jahrelang wöchentliches Pflichtprogramm für uns gewesen, so sehr liebten wir die smarte Prozessanwältin und ihre schlagfertigen Sprüche in allen Lebenslagen. Ich verzichtete darauf, Luna daran zu erinnern, dass Ally der Fantasie amerikanischer Drehbuchautoren entsprungen war. Aber die Zuversicht, dass wenigstens der weibliche Teil meiner Familie hinter mir stand, half mir schließlich über meine Selbstzweifel hinweg. Wie man sieht, hat es mir nicht geschadet.
Damit hast du nicht gerechnet, was, Papa?, denke ich voller Genugtuung, als ich schließlich auf den Parkplatz der Kanzlei einbiege, den Wagen auf meinem angestammten Stellplatz abstelle und im Rückspiegel noch einmal meine Frisur überprüfe. Dass deine Tochter nicht einmal fünf Jahre nach ihrem Examen bereits führendes Mitglied einer angesehenen Anwaltskanzlei sein würde! Mit beschleunigtem Puls und leicht feuchten Händen steige ich aus dem Auto und mache mich auf den Weg zum Eingang. An der Tür werfe ich einen letzten Blick auf das kleine, graue Firmenschild, auf dem gerade genug Platz für die Aufschrift ist.
Rechtsanwaltskanzlei Richter
Termine nach Vereinbarung
Ab sofort werden wir wohl ein größeres Schild benötigen.
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„Guten Morgen und ein frohes, neues Jahr!“, begrüße ich Yildiz fröhlich. Meine Lieblingskollegin ist morgens meist die Erste, die nach unserem Chef in der Kanzlei auftaucht. Auch heute steht sie bereits in der kleinen Betriebsküche und ist damit beschäftigt, die Bohnen im Kaffeeautomaten aufzufüllen.
„Frohes Neues!“, erwidert sie nicht halb so enthusiastisch und sieht mich argwöhnisch an. „Du bist aber gut gelaunt.“
„Ist ja auch ein schöner Tag!“, lächele ich und nehme mir eine Tasse aus dem Schrank, damit ich mir gleich einen Kaffee zubereiten kann, sobald sie fertig ist. Mit hochgezogener Augenbraue schaut sie aus dem Fenster. Ich folge ihrem Blick. Draußen regnet es wie aus Kübeln.
„Ich weiß nicht“, sagt sie. „Wenn ich an die ganzen Fälle denke, die unbearbeitet auf meinem Schreibtisch liegen, würde ich am liebsten sofort zurück in die Türkei!“ Wie jedes Jahr hat sie über die Feiertage ihre Familie in ihrer Heimat besucht. Und jedes Jahr sehnt sie sich nach Urlaubsende dorthin zurück.
„Du machst das schon!“, muntere ich sie auf und platziere meine Tasse unter den Düsen des Automaten.
„Was bleibt mir auch anderes übrig“, seufzt sie und greift zu ihrer eigenen dampfenden Tasse, die bereits das verführerische Kaffeearoma verströmt. „Obwohl … vielleicht kann ich ja ein bisschen auf die neue Referendarin abschieben.“ Die Vorstellung entlockt ihr immerhin ein kurzes Grinsen.
„Fängt die heute an?“
Yildiz nickt. „Weißt du doch.“
Aber nur in der Theorie. Tatsächlich hatte ich vollkommen verdrängt, dass wir für die nächsten zehn Monate weibliche Verstärkung im Team bekommen. Die Referendarin, die ihren Vorbereitungsdienst bei uns ableisten wird, hat sich bereits vor ein paar Wochen vorgestellt. Ich hatte sie nur flüchtig begrüßt, sodass sie mir nicht dauerhaft im Gedächtnis geblieben ist.
„Bin gespannt, wie die sich macht“, meint Yildiz. „Wenn ich da an Rüdiger denke …“
„Gott bewahre“, sage ich.
Rüdiger war unser letzter Referendar, und der war wirklich eine Strafe. Trotz seines altertümlichen Namens war er erschreckend jung für einen angehenden Anwalt. Das Studium hatte er in Rekordzeit hinter sich gebracht und dazu mit Auszeichnung bestanden. Hochintelligent war er, das musste man ihm lassen. Aufgrund dessen jedoch völlig ungeeignet für den Beruf, denn im Umgang mit Menschen war er eine absolute Null. An Rüdiger zeigte sich wieder einmal, dass ein hoher IQ noch lange keinen guten Anwalt macht.
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