„Das ist toll, dann seid ihr schon zu zweit. Und der Rest findet sich bestimmt schnell“, sage ich und denke an die vielen Arbeitssuchenden in unserem Land, die für einen Kellner- oder Küchenjob sicher dankbar sind.
„Hast du dir das auch wirklich gut überlegt?“, meldet sich Matthias zu Wort.
„Nein, weißt du. Das habe ich ganz spontan letzte Nacht entschieden“, erwidert Ben ironisch.
„Echt, was soll diese dämliche Frage?“, herrscht Luna ihn an.
Matthias bleibt ruhig. „Ich will nur nicht, dass du dir Illusionen machst. Es gehört mehr dazu, ein Restaurant erfolgreich zu führen, als nur ein guter Koch zu sein.“
„Tja, es gehört auch mehr dazu, ein guter Vater zu sein, als nur das Geld nach Hause zu bringen“, zischt Luna bitterböse. Einen Moment ist es totenstill am Tisch. Erschrocken sehe ich zwischen meiner Schwester und meinem Schwager hin und her. Ich habe die beiden schon oft streiten sehen, doch Lunas Bemerkung klang nicht nach einem üblichen, kleinen Ehezoff.
„Was?“, faucht Matthias.
„Vergiss es“, sagt sie und schneidet dann so energisch an ihrem Hähnchen herum, dass man meinen könnte, sie stelle sich vor, es sei Matthias' Hals.
„Also … weißt du schon, wann du eröffnen willst?“, wende ich mich betont munter an Ben. Dankbar geht er auf meinen Versuch, die Stimmung zu entgiften, ein.
„Ja, ich dachte an Anfang Mai.“
Matthias lacht auf. „Das ist aber ziemlich unrealistisch.“
„Warum?“
„Du hast uns doch gerade erklärt, wie viel Arbeit noch auf dich zukommt. Außerdem laufen gute Angestellte nicht auf der Straße herum. Es kann Ewigkeiten dauern, bis du anständige Mitarbeiter gefunden hast. Restaurants, die innerhalb weniger Wochen aus dem Boden gestampft werden, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt.“
Mir ist klar, dass mein Schwager nur Luft ablassen muss und Ben ihm dabei unglücklicherweise in die Quere gekommen ist. Normalerweise verstehen sich die beiden prächtig, und seine Äußerungen sind sicherlich nicht böse gemeint. Trotzdem habe ich das Gefühl, meinen Freund verteidigen zu müssen.
„Ben wird schon wissen, was er tut.“
„Das glaube ich allerdings auch“, stimmt Luna zu. Zornig funkelt sie ihren Mann an. „Seit wann verstehst du überhaupt was davon, wie man ein Restaurant aufzieht?“
„Gesunder Menschenverstand, Schatz.“
„Den habe ich auch“, meint Ben. „Dafür muss man nicht studiert haben.“
„Mann, jetzt fühl dich nicht gleich angegriffen“, stöhnt Matthias. „Das sind gutgemeinte Ratschläge.“
Ben knirscht mit den Zähnen, ich kann es deutlich hören.
„Tolle Ratschläge, die einem alles madig machen“, knurrt Luna.
„Ich bin auf alles vorbereitet, keine Sorge. Für die Renovierung stelle ich Handwerker ein. Um das Geschäftliche kümmert sich mein Steuerberater. Mit dem habe ich schon gesprochen. Und für die Behördengänge habe ich ja immer noch Stella. Oder?“ Fragend sucht er meinen Blick.
„Natürlich, ich such dir gerne die entsprechenden Vorschriften raus, an die du dich halten musst. Du kannst auch jederzeit in der Kanzlei vorbeikommen. Yildiz und Robert kennen sich auf dem Gebiet besser aus als ich.“
„Danke. Seht ihr? Ich bin nicht allein.“
„Da hörst du's. Er verrennt sich nicht kopflos in irgendeine Schnapsidee“, raunzt Luna Matthias an. „Er hat einen richtigen, vernünftigen Plan.“
„Meine Güte!“, braust dieser auf. „Ich wollte bloß …“ Bevor er uns mitteilen kann, was er wollte, wird er von einem vorwurfsvollen Quäken aus Finns Maxi-Cosi unterbrochen. Bis jetzt hat mein Neffe friedlich neben dem Tisch in seinem tragbaren Sitz geschlummert. Nun scheint ihn unsere Diskussion aus dem Schlaf gerissen zu haben.
„Großartig, Matthias!“, beschwert sich Luna. Sofort springt sie auf, um zu ihrem Sohn zu eilen. „Siehst du, was du angerichtet hast?“
„Klar, ich bin ja neuerdings alles schuld!“
Hilfesuchend schaue ich zu Ben, aber er zuckt nur ratlos mit den Schultern.
„Er braucht eine neue Windel“, stellt meine Schwester fest, nachdem sie den weinerlichen Finn aus seinem Ersatzbett gehoben und an seinem Strampelanzug geschnuppert hat.
„Und? Dann mach ihm halt eine.“
„Sicher. Das ist ja meine einzige Aufgabe, stimmt's?“ Mit Finn auf dem Arm stürmt sie aus dem Raum, um die Tasche mit den Babyutensilien zu holen. Betretenes Schweigen legt sich über uns. Mein Schwager steckt sich eine übervolle Gabel mit Hähnchen und Reis in den Mund, obwohl das Essen längst kalt sein muss. Weder Ben noch ich wagen es, ihn anzusprechen.
„Wo sind denn die Windeln?“, ruft Luna verärgert aus dem Flur.
„Was weiß ich. Irgendwo in der Tasche wahrscheinlich.“
Luna kommt mit der gesamten mitgebrachten Babyausstattung zurück und knallt sie vor ihren Mann auf den Boden.
„Genau da sind sie eben nicht, sonst hätte ich ja wohl kaum gefragt. Du kannst selbst nachgucken.“
„Dann hast du sie wohl vergessen“, entgegnet er trocken.
„ Ich ? Du solltest sie einpacken!“
„Wie bitte?“
„Denk daran, die Windeln mitzunehmen! Das habe ich dir noch zugerufen, als ich dabei war, ihm die Jacke anzuziehen!“
Finns Wimmern ist inzwischen zu einem lautstarken Schreien angewachsen.
„Anscheinend nicht laut genug, sonst hätte ich es ja gehört.“
„Ach, Blödsinn! Du hörst nur noch, was du hören willst!“
„Jetzt bin ich wieder der Böse, oder was?!“
Die beiden brüllen sich jetzt so laut an, dass Finns Weinen darin fast untergeht.
„Ist es denn zu viel verlangt, dass du einmal …“
„HEY!“ Meine Stimme lässt die beiden schlagartig verstummen. Nur der Kleine schreit ungehindert seinen Kummer heraus. „Reißt euch mal zusammen“, maßregele ich die beiden und nehme Finn behutsam aus Lunas Armen. „Ihr macht ihm Angst!“
Das scheint sie zur Besinnung zu bringen. Luna beißt sich beschämt auf die Lippen. Auch Matthias senkt den Blick. Ben, der das Spektakel schweigend verfolgt hat, räuspert sich und steht auf. „Braucht ihr irgendwas? Soll ich euch Küchentücher oder so was geben? Die tun's vielleicht auch als Windel.“
„Nein“, sagt Luna. „Ist nett gemeint, aber ich glaube, wir gehen jetzt besser.“
„Sicher? Ich habe noch Nachtisch …“
„Lass gut sein“, winkt Matthias ab.
Durch mein sanftes Schaukeln hat Finn sein Schreien auf ein erträgliches Jammern reduziert. Vorsichtig gebe ich ihn Luna zurück, die ihn in den Maxi-Cosi verfrachtet. Matthias sammelt die unnützen, da windellosen Babysachen zusammen. Wir bringen die drei zur Wohnungstür. Die Stimmung könnte kaum gedrückter sein.
„Danke fürs Essen“, verabschiedet sich Luna knapp.
„Ja, danke“, wiederholt Matthias pflichtbewusst und wirft sich die Jacke über.
Irgendetwas in meinem Inneren hat sich schmerzhaft zusammengekrampft. Es hat nichts zu bedeuten, sage ich mir. Alle Ehepaare kriegen sich ab und zu in die Haare. Deswegen haben sie sich trotzdem gern. Dennoch drängen sich unwillkürlich die Erinnerung an meine Eltern in mein Bewusstsein, die sich einmal zu oft in die Haare gekriegt und sich dann plötzlich überhaupt nicht mehr gernhatten. Bitte! Vertragt euch wieder!, möchte ich sagen, aber natürlich halte ich mich zurück. Das müssen die zwei unter sich ausmachen.
„Ich ruf dich an“, teilt Luna mir noch rasch mit, bevor sie zusammen mit ihrer Familie im Hausflur verschwindet. Ben schließt die Tür hinter ihnen.
„Puh!“, seufzt er.
„Tut mir leid“, sage ich.
„Was?“
„Dass sie dir den Abend versaut haben.“
„Ist doch nicht deine Schuld.“
„Nein. Aber du wolltest mit uns feiern, und dann machen sie dir alles kaputt. Das ist nicht fair.“
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