„Okay, ich komme.“
Er nickt zufrieden, wartet, bis ich bei ihm bin und lässt mir dann den Vortritt. Angespannt durchkreuze ich den verwaisten Empfangsbereich. Warum bin ich eigentlich immer eine der letzten, die Feierabend macht? Kaum betrete ich das Chefbüro, sehe ich Richters Verstärkung hinter dem Schreibtisch sitzen.
„Hallo“, sagt er mit einem überfreundlichen Lächeln.
„Hallo“, entgegne ich grimmig.
„Oh, was soll denn der böse Blick? Habe ich etwas verbrochen?“, scherzt er.
Etwas? Ich komme schon nicht mehr mit dem Zählen nach!
„So gucke ich immer“, antworte ich kurz angebunden.
„Ja, das ist mir auch schon aufgefallen“, amüsiert er sich, während ich Platz nehme. Richter lässt sich mir gegenüber nieder.
„So“, beginnt er.
„Wie gesagt, ich habe nicht viel Zeit“, erinnere ich ihn noch einmal. Vielleicht ermuntert es ihn, die Standpauke auf die wesentlichen Punkte zu reduzieren.
„Immer in Eile, was?“ frotzelt sein Sitznachbar.
„Ich habe eben viel zu tun“, gebe ich schnippisch zurück
„Genau darüber wollen wir mit Ihnen sprechen“, ergreift mein Chef das Wort. „Wie kommen Sie denn mit Frau Weidemann zurecht?“
„Gut. Sehr gut!“, erwidere ich. Auch das ist die Wahrheit. Mentorin zu sein ist gar nicht mal so übel, wie ich anfangs befürchtet hatte. Die Frage macht mich jedoch stutzig. „Warum? Hat sie Beschwerde eingelegt?“
„Nein, nein, ganz und gar nicht! Im Gegenteil. Sie sagte, sie sei sehr zufrieden mit Ihnen.“
Erleichtert atme ich aus. Der Anlass für dieses Gespräch hat sich mir dafür immer noch nicht erschlossen.
„Es geht um Folgendes“, fährt er ob meines fragenden Blickes fort. „Sie bearbeiten zurzeit recht viele Fälle, wenn ich mich nicht irre.“
„Ja, das stimmt, ich habe gut zu tun.“
„Dazu kommen Ihre Aufgaben als Mentorin. Insgesamt sind Sie damit ausreichend ausgelastet.“ Zögerlich nicke ich. „Deswegen haben wir uns überlegt, dass es am sinnvollsten wäre, wenn Sie vorerst keine weiteren Mandate annehmen.“
Wie schlechte Nachrichten es so an sich haben, braucht auch diese ein paar Sekunden länger als eine gewöhnliche Informationen, bis sie zu meinem Verstand vorgedrungen ist und ich ihren Sinn begriffen habe.
„Wie bitte?“, frage ich dennoch. Irgendwie hofft man ja doch jedes Mal, sich verhört zu haben, auch wenn das nie der Fall ist.
„Ich möchten Sie bitten, potentielle Mandanten, die Sie um eine Erstberatung bitten, gleich an Felix zu verweisen. So erreichen wir eine ausgeglichene Verteilung der Fälle zwischen Ihnen beiden.“
„Ich … ich soll meine Mandate an Sie abgeben?“, keuche ich an Süßkind gewandt, der gelassen in seinen Stuhl sitzt. Aber Mumm genug, mir ins Gesicht zu sagen, dass mir praktisch eine Arbeitssperre auferlegt wird, hat er nicht. Da lässt er lieber seinen Onkel für sich sprechen, der Feigling!
„Niemand hat von abgeben geredet“, sagt er, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. „Sie sollen lediglich keine neuen Fälle annehmen. Nur solange, bis Ihre aktuellen abgehandelt sind, versteht sich.“
Versteht sich?? Ich verstehe überhaupt nichts.
„Warum?!“
„Sehen Sie, natürlich hat Felix seine Mandate, die er vor seiner Arbeit hier angenommen hat, mitgebracht und wird die Mandanten auch weiterhin betreuen. Aber irgendwann ist jeder Fall abgeschlossen. Uns ist einfach aufgefallen, dass Sie wesentlich mehr davon betrauen als Felix, und dieses Ungleichgewicht wollen wir aufheben“, erklärt Richter mir in vertrauensvollem Tonfall, als wolle er ein kleines Kind davon überzeugen, dass der Hustensaft gaaanz lecker schmeckt. Tut mir leid, mein Guter. Für diese Masche bin ich leider ein bisschen zu alt.
„Und ich soll jetzt dafür büßen, dass Herr Süßkind nicht in der Lage ist, neue Mandanten an Land zu ziehen?“, rufe ich aus.
„Frau Herz, ich muss doch sehr bitten!“
Sein Neffe winkt ab. „Mach dir nichts draus. Sie wird öfter mal ausfallend, wenn es um mich geht.“
Okay, ich bin nicht die Einzige, der kurzzeitig ihr gutes Benehmen abhandengekommen ist. Wobei man bei ihm schon eher von einem längerfristigen Verlust sprechen kann. Mich derart vor meinem Chef bloßzustellen ist jedenfalls der Gipfel der Unkollegialität.
„Ich …“, schnappe ich nach Luft.
„Dazu besteht keinerlei Anlass“, fährt Richter mir über den Mund. „Sie beide arbeiten nicht gegeneinander, sondern zusammen, worauf Sie mein Neffe, glaube ich, schon wiederholt hingewiesen hat.“ Besagter nickt selbstgerecht. „Gerade deshalb wäre es wünschenswert, wenn Sie sich kooperativ zeigen würden und die Arbeit unter sich besser aufteilen würden.“
Gelähmt von den Ungeheuerlichkeiten, die sie mir gerade offenbart haben, wandert mein Blick zwischen den beiden hin und her. So sehen sie also aus: der Teufel und seine Brut. Ich hätte es besser wissen müssen. Die beinahe freundliche Art von Süßkind in den letzten Tagen, das Ausbleiben jedweder Provokation – das alles nur, um mir in einem Moment, in dem ich vollkommen unvorbereitet bin, das Messer umso tiefer in die Brust zu rammen. Zu meinem Entsetzen merke ich, wie mir Tränen ohnmächtiger Wut in die Augen schießen. Mit aller Kraft halte ich sie zurück.
„Habe ich denn eine andere Wahl?“, bringe ich schwer atmend hervor. Satan Junior gibt seine lässige Sitzpose auf und beugt sich über den Tisch zu mir vor, um mir ebenfalls mit vorgetäuschter Vertrauensseligkeit in die Augen zu sehen.
„Frau Herz, wir wollen Ihnen doch nichts Böses“, lügt er. „Ich will Sie nur entlasten. Das kommt uns beiden zugute.“
Entlasten? Ein sehr schöner Euphemismus. Ausbluten lassen will er mich. Damit er anschließend unversehens meinen Platz einnehmen kann, wie er es von Anfang an vorhatte. Für den Bruchteil einer Sekunde bin ich versucht, das Handtuch zu werfen, zu gehen und nie wiederzukommen. Da draußen gibt es unzählige Kanzleien, die mich mit Handkuss nehmen würden. Weshalb sollte ich mir diesen täglichen Kampf hier länger antun? Gleich darauf komme ich zur Besinnung. Trotz aller Widrigkeiten, denen ich mich in den letzten Wochen stellen musste, bin ich jeden Morgen gerne hier erschienen. Ich mag diese Kanzlei, ich arbeite aus gutem Grund für sie, und ich bin niemand, der aufhört zu laufen, sobald der Weg nach oben plötzlich etwas uneben wird. Jetzt erst recht!, denke ich. Ich war vor unserem neuen Partner da, und um mich von hier zu vertreiben, muss er sich schon etwas Besseres einfallen lassen, als mir ein bisschen Arbeit abzunehmen.
„Gut. Sie können meine zukünftigen Mandate haben. Vielleicht haben Sie dann auch nicht mehr so viel Zeit, sich in Online-Communitys herumzutreiben“, merke ich an, und zum ersten Mal bin ich diejenige, die sich ein spöttisches Lächeln nicht verkneifen kann.
„Wie bitte?“ Irritiert blickt Richter zu seinem Neffen.
„Vergiss es“, sagt er. Ein wenig hastig, wenn ich mich nicht täusche.
„War das alles? Dann würde ich jetzt gerne gehen.“
„Ja, sicher“, stimmt Richter zu. „Ein schönes Wochenende, Frau Herz.“
Ausnahmsweise lasse ich mich zu einem „Gleichfalls“ hinreißen. Von wegen die Klügere gibt nach und so. Zurück in meinem Büro schnappe ich mir schnell meine Tasche und verlasse die Kanzlei dann beinahe fluchtartig, um niemandem mehr die Gelegenheit zu geben, meinen wohlverdienten Feierabend zu torpedieren. Auf dem Weg zum Auto verraucht mein Zorn allmählich. Natürlich bin ich weiterhin fassungslos über den neuesten Schachzug der werten Partner. Sie halten sich wahrscheinlich für sehr clever und mich für ein naives, unerfahrenes Frauchen, das ihnen ihr Wir-wollen-Ihnen-nur-Arbeit-abnehmen-Gerede gutgläubig abnimmt. Nun, am Ende werden sie schon zu der Einsicht gelangen, dass sie mich unterschätzt haben. Mit dem tröstenden Gedanken an meinen ungebrochenen Kampfeswillen und mit dem Entschluss, mich auf einen netten Abend mit meinen Freunden zu freuen, steige ich in mein Auto und mache mich auf den Heimweg. Kaum bin ich ein paar hundert Meter gefahren, höre ich aus meiner Tasche den Signalton meines Handys, das den Eingang einer E-Mail ankündigt. Sobald ich an der nächsten Ampel anhalten muss, nutze ich die Gelegenheit, es herauszukramen und nachzusehen, wer mir geschrieben hat. Es ist eine Benachrichtigung von Friendsbook . Stirnrunzelnd öffne ich die Mail.
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