Angewidert betrachte ich das zerrupfte Tier. „Was haben Sie mit ihm angestellt?“
„Gar nichts“, lacht er. „Ich habe ihn vor ein paar Jahren aus Rumänien mitgebracht. Er war ein Straßenhund. Die anderen in seinem Rudel müssen ihn so zugerichtet haben. Das Ohr hat er wahrscheinlich im Kampf verloren.“
Was hatten Sie denn in Rumänien zu suchen?, platze ich beinahe heraus, kann mich jedoch rechtzeitig bremsen. Interessiert mich eigentlich auch gar nicht.
„Und Sie haben ihn gerettet?“
„Könnte man so sagen“, nickt er. Ich kann förmlich sehen, wie seine Brust vor Stolz anschwillt.
„Sie scheinen ja eine sehr soziale Ader zu haben“, stelle ich ironisch fest.
„Das wurde mir schon nachgesagt, ja. Aber falls Sie sich Sorgen um seine soziale Isolation machen – seine Hundefreunde habe ich alle dort gelassen. Es gibt also niemanden, der ihn ausgrenzen könnte.“ Wieder einmal kräuseln sich seine Lippen spöttisch.
Sehr witzig!
„Freut mich für Ihren Kö... Hund“, sage ich. So schnell lasse ich mich von seiner provozierenden Anspielung nicht aus der Ruhe bringen.
„Wohnen Sie hier in der Gegend?“, wechselt er unvermittelt das Thema.
„Nein“, antworte ich knapp.
„Wie schade. Sonst hätten wir mal zusammen spazieren gehen können. Mit dem Hund und Ihrem Neffen.“
Eher würde ich mir die Füße abhacken!
„Ja, wirklich. Zu schade.“
Mein Sarkasmus prallt an ihm ab wie Regen an seinen Gore-Tex-Schuhen. Das Grinsen will ihm einfach nicht von den Lippen weichen. „Sei's drum, wir sehen uns ja morgen.“
Leider.
„Genau. Wir müssen dann auch weiter. Bis morgen.“ Schon schiebe ich den Kinderwagen wieder an. Meine Mutter nickt ihm zu.
„Schönen Sonntag noch.“
„Danke“, erwidere ich und verzichte absichtlich auf ein „Gleichfalls.“ Es dauert eine Weile, bis das Klimpern von Luckys Hundemarke an seinem Halsband so leise geworden ist, dass wir uns außer Hörweite wähnen können. Mama wirft einen Blick über ihre Schulter.
„Das war er also.“
„Ja, das war er“, grummele ich. „Und? Was meinst du?“
„Hm. Er wirkte ein bisschen arrogant, oder nicht?“
„Oh, danke !“, rufe ich erleichtert aus. „Endlich jemand, der das genauso sieht!“ Allmählich hatte ich wirklich schon Angst, ich würde an einer schizoiden Störung oder etwas in der Art leiden.
„Was hatte denn das Gerede über soziale Isolation zu bedeuten?“, fragt sie stirnrunzelnd.
„Das hat er nur gesagt, weil ich es gewagt habe, Kritik an Patenschaften zu äußern“, erkläre ich und erzähle ihr von unserem kleinen Disput wegen Nabila. „Weißt du, erst prahlt er mit seinem Hybridauto, dann lässt er jeden wissen, wie sehr er sich für Hunger leidende Kinder einsetzt, und jetzt kommt er mit einem Hund um die Ecke, den er von den gefährlichen Straßen Rumäniens geholt hat. Demnächst hängt er noch ein Rettet-die-Wale-Plakat in der Kanzlei auf oder verteilt Rezepte für veganes Essen. Der Mann tut so, als wäre er ein verdammter Heiliger!“, schimpfe ich.
„Irgendwie verdächtig, nicht?“
„Wie meinst du das?“
Meine Mutter hebt die Schultern. „Ich finde es seltsam, wenn Menschen übertrieben einen auf gut machen. Es wirkt, als hätten sie etwas zu verbergen.“ Sie lacht. „Aber vielleicht sehe ich das falsch. Womöglich ist er wirklich einfach ein guter Mensch. Soll es ja geben.“
„Glaube ich nicht. Niemand ist perfekt. Er muss irgendeinen Makel haben.“
„Dann finde heraus, welchen.“
„Das werde ich“, erwidere ich mit Bestimmtheit. Denn wenn ich erst seine Achillesferse kenne, wird der Rest ein Kinderspiel werden.
*
Mit meiner Recherche beginne ich gleich am nächsten Tag in der Mittagspause. Wäre doch gelacht, wenn sich nicht etwas finden ließe, das meinen Widersacher wenigstens in ein schlechtes Licht rückt. Am Ende stellt sich heraus, dass er vorbestraft ist, mit unlauteren Mitteln an seine Zulassung gekommen ist oder in seiner Freizeit gerne Frauenkleider trägt. In mich hineinkichernd lehne ich mich in meinem Bürostuhl zurück und tippe seinen Namen in das Feld der Suchmaschine. In null Komma vier Sekunden erhalte ich zweihunderttausend Treffer. Wer sagt es denn! Das ist etwas, womit ich arbeiten kann. Dazu muss ich die Ergebnisse natürlich erst filtern, denn Felix Süßkind ist kein Name, der einzigartig ist, und es verweisen bei Weitem nicht alle Einträge auf den Gesuchten. Doch schon der dritte Link führt mich geradewegs auf die Homepage unserer Kanzlei. Nun erwarte ich nicht ernsthaft, dort Hinweise auf eine dunkle Vergangenheit zu finden, neugierig bin ich dennoch. Bis dato hatte ich keine Ahnung, dass unser Internetauftritt bereits aktualisiert ist. Dabei hätte ich es mir denken könne – so schnell, wie sein Name auf dem Firmenschild verewigt war. Tatsächlich ist der gleiche Schriftzug nun auf der Hauptseite zu lesen. Lediglich unser Motto haben die Herren Richter und Süßkind beibehalten: Mit Herz und Recht auf Ihrer Seite . Ironie des Schicksals, dass sich mein Chef lange vor meiner Zeit ausgerechnet für diesen Leitspruch entschieden hat und sich trotzdem nicht dazu durchringen konnte, seine Angestellte mit Namen Herz zur Partnerin zu machen. Es hätte so schön gepasst … Ich schüttele den Gedanken ab, klicke mich zur Seite, auf der die Mitarbeiter vorgestellt werden, und schon sehe ich ihn. Sein Foto prangt ganz oben, gleich neben dem seines Onkels, von dem aus er dem Betrachter mit einem seriösen Lächeln entgegenschaut. Auf unvoreingenommene Mandanten könnte er durchaus sympathisch wirken, muss ich mir eingestehen. Kompetenz strahlt er jedenfalls aus, das muss man ihm lassen. Ich löse mich von seinem Bild und scrolle herunter zum Lebenslauf.
Zuerst fällt mein Blick auf sein Geburtsdatum, das mich wenig überrascht. Ganz wie ich vermutet hatte, ist er nicht viel älter als ich. In ein paar Wochen wird er sechsunddreißig. Trotzdem hat Richter allen Ernstes behauptet, ich sei zu unerfahren für die Stelle. Meine These zur Vetternwirtschaft dürfte hiermit eindeutig bewiesen sein. Kopfschüttelnd lese ich weiter. Studiert hat er zwar bloß in Köln, nicht etwa in Heidelberg oder an einer anderen Eliteuni, danach folgten allerdings Auslandsaufenthalte in Spanien, Südamerika und zuletzt Rumänien (daher sein hässlicher Hund), wo er sich zum Teil pro bono (!) für die Rechte sozial Schwacher eingesetzt hat, bevor er zurück nach Deutschland kehrte und sich auf Familien- und Eherecht spezialisierte. Himmelherrgott, der Mann scheint wirklich ein Heiliger zu sein! Ich bin fassungslos. Es muss doch irgendeinen Fleck in seiner Vorzeigevita geben. Zurück in der Trefferliste der Suchmaschine stöbere ich weiter nach Hinweisen auf kriminelle Energien, anrüchige Vorlieben oder zumindest eine klitzekleine Jugendsünde. Aber ich finde – nichts. Bis auf einen Artikel, den er vor einem Jahr in einer juristischen Fachzeitschrift zum Thema Ehegattensplitting veröffentlicht hat, führen alle anderen Links bloß zu zufälligen Namensvettern und offenbaren keinerlei Geheimnisse. Frustriert beende ich meine Suche. Vielleicht hat meine Mutter sich doch geirrt und er ist nichts weiter als ein Mensch, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Gutes in der Welt zu vollbringen. Oder er ist bloß gut darin, alles andere zu vertuschen. Gerade will ich den Internetbrowser schließen und mich mit dem Gedanken vertraut machen, dass ich die Dinge vielleicht auf sich beruhen lassen sollte, als mir eine Idee kommt. Mit neuer Zuversicht wechsele ich auf die Seite von Friendsbook und logge mich in meinen Account ein. Im Grunde halte ich nicht viel von sozialen Netzwerken und bin nur selten auf der Website aktiv. Dementsprechend jämmerlich ist die Anzahl meiner Kontakte, und selbst von denen kenne ich höchstens die Hälfte näher. Aber es gibt Leute, die mehr Zeit mit ihren Freunden im Netz verbringen als mit realen und sich nicht davor scheuen, die Öffentlichkeit an jedem Augenblick ihres Privatlebens teilhaben zu lassen. Es würde mich nicht wundern, wenn Felix Süßkind ebenfalls zu ihnen gehört. Gespannt gebe ich erneut seinen Namen in die Suchmaske ein. Ohne Ergebnis. Verflixt! Ich hätte schwören können … Halt! Mir fällt ein, dass auch ich nicht mit meinem vollständigen Namen angemeldet bin. Ich verkürze seinen Nachnamen bis auf den Anfangsbuchstaben, und siehe da: Volltreffer! Gleich das erste Ergebnis verweist auf sein Profil. Mit einem zufriedenen Grinsen, in Erwartung, jede Sekunde Urlaubs- und Partybilder der peinlichsten Sorte zu erblicken, klicke ich es an. Doch wieder werde ich enttäuscht. Außer einem Foto, auf dem er kaum zu erkennen ist, ist nichts zu sehen.
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