„Hallo!“, höre ich kurz darauf eine wohlvertraute Stimme flöten.
„Mama! Was machst du denn hier?“
„Darf ich etwa nicht meine reizende Tochter und meinen Enkel besuchen?“
„Ein Anruf vorher wäre nett gewesen“, grummelt meine Schwester. „Ich stehe nicht mehr so auf Überraschungsbesuche, seitdem ich bis nachmittags im Schlafanzug herumlaufe.“
Meine Mutter lacht. „So ist das eben mit einem Baby im Haus.“
Behutsam hebe ich Finn hoch und gehe zu den beiden in den Flur. „Hallo, Mama!“
„Stella!“ Erfreut strahlt sie mich an. „Das ist ja ein schöner Zufall. Von dir hört und sieht man ja auch nichts mehr.“
Auch wenn sie es scherzhaft sagt, schwingt ein leiser Vorwurf mit. Prompt bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Seit Weihnachten hat sich mein Kontakt zu ihr auf ein paar kurze, nichtssagende Telefonate beschränkt. Nachdem ich ihr eher widerwillig von der geplatzten Beförderung und meinem unliebsamen neuen Kollegen erzählt hatte, habe ich unsere Gespräche auf ein Minimum reduziert. Ihr Mitleid hätte sonst alles nur noch schlimmer gemacht.
„Ich hatte viel zu tun“, sage ich ausweichend.
„Du arbeitest zu viel“, meint sie und schaut mich leicht besorgt an. Vermutlich sieht sie mich bereits in einer Klinik für Burn-out-Patienten.
„Sagt die Richtige“, entgegne ich spöttisch.
Früher arbeitete meine Mutter als Lehrerin für Deutsch und Philosophie an einem Gymnasium. Richtig wohl fühlte sie sich dort jedoch nicht. Sie hatte sich immer mehr an der Universität zu Hause gefühlt. Über Kontakte zu früheren Dozenten erhielt sie schließlich einen Lehrauftrag in Köln. Dort schrieb sie ihre Doktorarbeit und ist heute Professorin für Neuere Literatur. Und wer jedes Semester Vorlesungen oder Seminare für Hunderte von Studenten vorbereiten und nebenbei unzählige Hausarbeiten korrigieren muss, sollte wirklich keine Bedenken über mein Arbeitspensum äußern.
„Ich gehe in ein paar Jahren in Rente. Du hast noch dein halbes Arbeitsleben vor dir. Da solltest du dich nicht jetzt schon völlig verausgaben“, meint sie nun.
„Das sag ich auch immer, aber auf mich hört sie ja nicht“, bemerkt Luna, ehe sie von einem erneuten Gähnanfall überwältigt wird.
„Wolltest du nicht ins Bad?“, nutze ich die Gelegenheit, um das Thema zu wechseln. Solche Unterhaltungen enden meiner Erfahrung nach nämlich damit, dass Luna mich dazu anhält, mir endlich einen Mann zu suchen, anstatt mein Leben an die Arbeit zu verschwenden. Ich bin es leid geworden, mich ständig dafür rechtfertigen zu müssen, warum ich lieber alleine bleibe. Deshalb bin ich dazu übergegangen, Diskussionen dieser Art im Keim zu ersticken.
„Ja, stimmt“, entsinnt sie sich.
„Ich wollte mich um Finn kümmern, damit Luna sich etwas erholen kann“, erkläre ich unserer Mutter. „Sie hat letzte Nacht kaum geschlafen.“
„Ach so. Schade, ich dachte, wir könnten zusammen einen Kaffee trinken.“
„Lass deiner reizenden Tochter mal ihren Schönheitsschlaf“, schmunzele ich.
„Das wäre wirklich zu gütig von dir“, stimmt Luna ein.
„Na gut. Zum Glück habe ich ja zwei reizende Töchter“, lacht Mama. „Dann kümmere ich mich eben mit dir zusammen um den Kleinen.“
„Wunderbar“, seufzt Luna zufrieden. „Wenn mich wer sucht, ich bin unter der Dusche und dann im Bett. Aber bitte: Weckt mich nur im Notfall, ja? Und unter Notfall verstehe ich einen abgetrennten Arm oder etwas in der Größenordnung.“
Meine Mutter und ich kichern.
„Keine Sorge, mein Schatz“, sagt Mama. „Das kriegen wir hin.“
*
Da draußen eine strahlende Wintersonne scheint und wir fürchten, Finns Schreien, das sich bereits mit einem leisen Wimmern ankündigt, könnte Luna beim Schlummern stören, beschließen wir, einen Spaziergang zu machen. Von Lunas Wohnung aus schlagen wir den Weg in den nahegelegenen Wald ein, der an einem kleinen Tierpark vorbeiführt. Auf den Baumwipfeln und am Wegesrand liegt noch immer ein wenig Schnee, der heute im Sonnenschein herrlich glitzert. Ich genieße die klare, frische Luft und bin froh, einmal nicht über den Stress in der Kanzlei nachdenken zu müssen. Bedauerlicherweise ist meine Freude darüber nur von kurzer Dauer. Meine Mutter erzählt mir gerade eine nette Anekdote vom Referat einer Studentin, dessen Inhalt offensichtlich aus einem Online-Lexikon entnommen wurde, als wir von einem rauen Bellen unterbrochen werden. Einen Augenblick später kommt von der nächsten Biegung aus ein graues, haariges Ungetüm auf uns zugeschossen und macht erst vor unserem Kinderwagen halt. Um uns herum tänzelt schwanzwedelnd und hechelnd der wohl hässlichste Hund, den ich je gesehen habe. Sein struppiges Fell weist einige kahle Stellen auf, neben seinem Auge ist eine vernarbte Bisswunde zu erkennen, und sein rechtes Ohr fehlt fast vollständig.
„Lucky! Hierher!“, ertönt der strenge Ruf seines Herrchens, wofür sich die Bestie allerdings nicht im Mindesten interessiert. Frech kläfft sie uns an und versucht, den Kopf in das Innere des Kinderwagens zu stecken. Entsetzt ziehe ich ihn zurück. Wer weiß, was diese Kreatur alles für Krankheiten auf den schutzlosen Finn übertragen könnte. Ganz zu schweigen von den lebensbedrohlichen Bissen.
„Weg da!“, zische ich dem Untier zu. Dass es immer noch Leute gibt, die die Dreistigkeit besitzen, ihre Viecher frei herumlaufen zu lassen, obwohl kleine Kinder in der Nähe sein könnten. Gemeingefährlich, so was! Schützend beuge ich mich über meinen Neffen und decke ihn etwas besser zu, damit er nicht in Kontakt mit umherwirbelnden Hundehaaren gerät. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie ein schwarzes Paar Treckingschuhe vor uns stehenbleibt.
„Können Sie Ihren Köter nicht anleinen?“, pampe ich in Richtung des Hundebesitzers, während ich das Verdeck des Kinderwagens nach unten klappe, damit Finn gänzlich abgeschirmt ist.
„Entschuldigen Sie, ich habe Sie zu spät gesehen“, erwidert er mit einer Stimme, die mich erstarren lässt. Langsam richte ich mich auf und schaue geradewegs in das Gesicht von Felix Süßkind.
„Ach! Hallo, Frau Herz“, sagt er und lächelt, als könne er kein Wässerchen trüben.
„Hallo“, brumme ich genervt. Hat man denn nirgendwo seine Ruhe vor ihm? Nicht mal sonntags im Wald? Da wird man ja paranoid! Von der Seite spüre ich den fragenden Blick meiner Mutter auf mir. Na schön, ich will ja nicht unhöflich sein. Ich räuspere mich und gebe mir einen Ruck. „Herr Süßkind, das ist meine Mutter. Mama, Herr Süßkind. Er ist der neue Partner unserer Kanzlei.“
„Freut mich.“ Er streckt ihr die Hand entgegen und schenkt ihr ein strahlendes Lächeln.
„Ebenso“, erwidert sie, obwohl ich bemerke, wie misstrauisch sie ihn begutachtet. Auch ich mustere ihn unauffällig. Er trägt eine Daunenjacke, die das Logo eines bekannten Unternehmens für Outdoor-Bekleidung ziert, darunter eine teuer wirkende Jeans. Ich habe ja nichts gegen gut angezogene Menschen, aber muss man sein Markenbewusstsein so übertrieben zur Schau stellen?
„Ich wusste gar nicht, dass Sie …“, reißt er mich von der Betrachtung seiner Klamotten los. Unsicher, wie er den Satz vollenden soll, hält er inne und deutet auf den Kinderwagen.
„Das ist nicht meins!“, erkläre ich hastig. Immerhin will ich ihm keine Gelegenheit geben, Fehlinformationen über mich zu sammeln, die er dann gegen mich verwenden kann. Zum Beispiel, ich hätte eine Schwangerschaft vertuscht und heimlich ein Kind zur Welt gebracht, weshalb ich nun unmöglich weiter in der Kanzlei beschäftigt werden kann. „Es ist bloß mein Neffe.“
„Verstehe.“
Ich nicke in Richtung seiner Töle. „Wären Sie dann so freundlich?“
„Na, komm her, Lucky“, sagt er und schnalzt mit der Zunge. Endlich trottet der Hund zu ihm und lässt sich gehorsam an die Leine legen. „Ich weiß, er sieht nicht so aus, aber er tut nichts.“
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