Jeremias ärgerte sich, nicht in die Karibik gefahren zu sein, zumindest widerte es ihn an, zu dieser Zeit auf diesem Platz zu sitzen. Wut kochte in ihm. Warum hockte er genau hier und nicht in einem Lokal außerhalb? Weshalb musste er sich gerade heute Abend an diesem Ort aufhalten, um diese Gruppe von verhassten Menschen anzutreffen? Oder sollte es eine Fügung sein, sich abermals über den Weg zu laufen, um die Geschichte zu beenden? Nur Carina wusste, wie er aussah, allerdings würde sie ihn schwerlich gleich wiedererkennen, er hatte sich äußerlich zu sehr verändert. Seine Stimme würde ihn mit Bestimmtheit verraten. Moritz und Carina küssten sich zärtlich. Jeremias konnte nicht mehr länger hinschauen, zu tief schnitt die Begegnung in sein Herz. Er schaute in die Zeitung, versuchte zu lesen. Die Buchstaben verschwammen vor den Augen, ein Abgrund tat sich in seinem Kopf auf, ein Sog wollte ihn in ein schwarzes Loch hineinziehen.
Julian zahlte die Eisbecher und die Gruppe schlenderte über den Platz auf die gegenüberliegende Seite. Ein hübsches Lokal in einem Innenhof gefiel Carina. Mitten im Restaurant, wuchs eine Palme.
»Moment!«, sagte Moritz bestimmt, als er die Karte las, die am Eingang angebracht war: »Wiener Schnitzel, Heringstopf Hausfrauenart, Rind à la Stroganoff, Camembert mit Preiselbeeren«, er holte Luft.
»Es reicht«, unterbrach Julian, »vorwärts!«
»Pizza Mario«, las Carina, »nicht im Spanienurlaub!«
»Chinesisch sicher auch nicht!«, lachte Laura. Sie bogen in eine Gasse.
Zwei aufdringliche Restaurantwerber versuchten, sie in gegenüberliegende Fischrestaurants zu locken.
»Die verweigern wir aus Trotz wegen der penetranten Kerle!«, dirigierte Moritz lachend die Gruppe um die nächste Ecke, da sie weiter vorn in der Fußgängerzone erneut Ticketeros erblickten. Sie schlenderten hintereinander den schmalen Bürgersteig entlang.
»Hier scheint nichts mehr zu kommen!«, meinte Julian.
»Doch, drüben, auf der anderen Straßenseite!«, sagte Laura. Sie blieb stehen. » Carmencita , niedlicher Name, sieht nett aus, aber eine sehr spärliche Speisekarte, wir sollten es uns merken und noch weiterschauen!«
Sie ging über die Querstraße und schaute neugierig ins benachbarte Restaurant hinein, kam heraus, winkte aufgeregt ihren Begleitern zu. »Das ist es! Annehmbare Karte und ein paradiesisches Ambiente!«
Das von außen trist wirkende Haus entpuppte sich als antikes kanarisches Anwesen. Im Eingang befanden sich Aquarien mit Fischen und Schalentieren. Den Patio, den Innenhof, schmückte ein zierlicher Springbrunnen. Alle Plätze waren besetzt. Der Kellner führte sie die Holztreppe hinauf nach oben. Überall standen dort Tische, hübsch dekoriert, mit Damast gedeckt, die Wände zierten alte Ölbilder in prunkvollen Rahmen. Die vielen kleinen Räume rundherum vermittelten den Eindruck, als sei man zu Besuch bei seiner Großmutter. Sie folgten dem Ober über die knarrenden Dielen in ein Zimmer. Laura klatsche entzückt in die Hände. Auch den anderen gefiel ihre Wahl.
»Wenn es so schmeckt, wie man sich fühlt, hast du den Volltreffer gelandet!« Julian, leicht aufgekratzt, nahm Laura in den Arm und drückte ihr einen lauten Kuss auf die Wange.
»Julian!«, zischte sie.
»O.k., heute keine Olivenkerne, ich verspreche es!«, grinste er sie an.
***
Jeremias sah von seiner Zeitung auf. Womit befasste sich dieser Artikel? Nicht einmal an die Überschrift erinnerte er sich. Sein Herz raste, sein Atem ging stoßweise. »Mist! Sie sind weg!«
Wer weiß, wozu es gut ist? Er hing seinen Gedanken nach und bezahlte. Hungrig zog er den Zettel mit der Wegbeschreibung heraus und orientierte sich. Rechts neben dem Platz, dort, wo der Taxistand ist, die Straße entlang, so hatte er die Erklärung von Gregorio in Erinnerung. Nach 15 Metern sollte man an eine kleine Kreuzung kommen. An den Ecken befanden sich zwei Restaurants, rechts das Regulo , links das Carmencita . Die Beschreibung stimmte. Nach drei Minuten fand Jeremias die Gaststätte. Er betrat einen Patio mit Springbrunnen. Hübsch, dachte er. Der Kellner brachte ihn die Treppe hinauf an einen winzigen Tisch im offenen Flur. Hier konnte er das gesamte Lokal übersehen, nur der Blick in die vielen anliegenden Zimmer blieb ihm verborgen. Jeremias bestellte sich einen Martini.
Vor dem Essen wollte er sich die Hände waschen und suchte nach der Toilette. Gedankenversunken wäre er fast mit Moritz zusammengestoßen. Jeremias erschrak, ihm fiel aber ein, dass Moritz ihn nur vom Telefon kannte, nicht wusste, wie er aussah. Er hörte noch, wie Julian sagte: »Bin ich froh, dass Laura in diesen Tennisclub nach Los Realejos fährt, während wir drei tauchen! Hoffentlich findet sie einen Tennispartner, dann ist sie beschäftigt und langweilt sich nicht!«
»Schlechtes Gewissen, die Ehefrau alleine hocken zu lassen? «, stichelte Moritz.
Jeremias wusch sich die Hände und lächelte vor sich hin. Dabei kam ihm eine Idee. »Einen Tennispartner, den kann ich ihr bieten. So ganz einsam, die bemitleidenswerte Frau? Los Realejos , ich frage heute Abend Gregorio, wo das liegt und wo es dort einen Tennisclub gibt!«, brummelte Jeremias vor sich hin. Was er damit bezwecken wollte, wusste er noch nicht. Es würde sich etwas ergeben. Auf dem Gang bemerkte er in seinem Rücken die Tür der Damentoilette aufgehen und Carinas Stimme stach ihm wie ein Messer ins Herz. Sie schien dicht hinter ihm herzugehen. Er meinte, ihren Atem in seinem Nacken zu spüren. Seine Haare auf den Armen stellten sich auf. Er machte einen kleinen Umweg zu seinem Platz und sah sie mit Laura in einen Raum verschwinden.
Carina plumpste nachdenklich auf ihren Stuhl.
»Was hast du?«, flüsterte Moritz ihr zu.
»Du wirst es nicht glauben, ich hatte soeben den Eindruck, Jeremias gehe vor mir! Die Figur, die Bewegungen, allerdings trug der Typ eine Glatze, aber ich bin mir absolut sicher!« Carina wirkte völlig durcheinander.
»Verfolgungswahn? Das im Urlaub?«, lachte Moritz.
»Sagtest du nicht, auf seine tolle lange Mähne sei er so stolz, habe sie jeden Morgen eine halbe Stunde gestylt? Vergiss den Typen endlich, der ist nicht einen Gedanken wert!»
»Lach nur, so eine frappierende Ähnlichkeit! Ich glaubte, ich spinne, hatte das Gefühl, mein Herz setzt aus. Innerhalb von Millisekunden waren alle Register gezogen, die ich zum Schutz ziehen könnte.« Sie hatte die Hände vor dem Gesicht gefaltet, biss auf dem Daumennagel herum. »Ich wartete, bis der Kerl um die Ecke bog, dann konnte ich ihn von vorn sehen, das beruhigte mich!«
»Er sah aus wie ich!«, witzelt Moritz hölzern.
»Bloß nicht! Er trug einen fürchterlichen Vollbart mit Zwirbelschnauzer und eine riesige Sonnenbrille, über der buschige Augenbrauen wucherten. Ich dachte bei dem Typ eher an Rübezahl! Ich dachte in dem Augenblick, mir bleibt die Luft weg, ich müsse heulen. Eine Panikattacke oder so was, keine Ahnung.« Carina stockte, griff nach Moritz’ Arm, sie krallte sich fest. »Ich nahm an, die Angst sei vorüber. Jetzt weiß ich, es wird nie vorbei sein.«
***
Am nächsten Morgen rief Jeremias um acht im Tennisclub an, um sich nach einem Tennispartner zu erkundigen. Das würde gut passen, erfuhr er, da um zehn Uhr eine Deutsche komme, die auch einen Partner suche, ebenso eine Freizeitspielerin, keine Leistungssportlerin.
Im Badezimmer packte Jeremias seine Effektlinsen aus. Die blauen Kontaktlinsen hatte er sich einmal als Gag zugelegt und noch immer lagen sie in ihrem Behälter in seiner Tasche. Er fischte die weichen Linsen heraus, legt sie auf die Iris, schloss und öffnete ein paarmal die Lider. Er betrachtete sich fasziniert. Seine Augen strahlten ihn in einem warmen, auffälligen Preußischblau an. »Kennen wir uns?«, fragte Jeremias sein Spiegelbild. Die Farbe wirkte ungewöhnlich, äußerst attraktiv, sein Äußeres schien durch ein kleines, unscheinbares Stück Kunststoff verändert.
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