»Ich war auf dem Weg ins Rezeptionsbüro um die Reservierungen für das Restaurant am Abend abzuholen, als der Mann mich nach der Nachricht fragte. Ich gab ihm die Auskunft, weil die Kollegin, die On Duty war, in ein längeres Telefongespräch wegen einer Reklamation verwickelt war und der Mann einen recht ungeduldigen Eindruck machte. Es schien ihr, dass er sehr ungehalten war wegen der Zeit, die er schon gewartet hatte. Die Kollegin nickte mir zu, damit ich mich kümmern sollte.«
»War niemand anderes zur Stelle?«, wollte Hauptkommissar Berendtsen wissen.
»Nachmittags ist die Rezeption immer nur einfach besetzt im Gegensatz zu zwei Mitarbeitern am Abend. Morgens sind sogar immer drei Leute eingeteilt. Ich habe es nur gut gemeint und wollte die Situation entschärfen.« Sie hatte die Tränen schon in den Augen stehen und es fehlte nicht viel und sie wäre angefangen zu weinen.
Dann beruhigte Frau Kemper sie und sie fing sich wieder. Sie dachte nach und erzählte:
»Er war groß und kräftig, so ein Boxertyp. Ich schätze mal so 1,95 m, 120 Kilo, rauer Typ, jedenfalls nicht gepflegt. Ost-Akzent. Er trug einen grauen Anzug, ein weißes Hemd ohne Krawatte und hatte einen schwarzen Hut auf, den er nicht absetzte, was mich gewundert hat.«
»Haben Sie vielleicht noch irgendetwas bemerkt? Sein Auto vielleicht gesehen? Eine Narbe?«
»Seine Haare waren jedenfalls so kurz, dass man sie unter dem Hut nicht sehen konnte. Er war glatt rasiert, was irgendwie gar nicht zu ihm passte.«
»Ist er von hier aus weiter ins Hotel gegangen?«
»Nein, das weiß ich ganz genau. Er ist dann gleich wieder auf den Parkplatz hinaus. Ich habe ihm noch nachgeschaut«. Sie machte eine Pause und blickte auf den Parkplatz. »… und ich war froh, dass er wieder weg war. Dann bin ich mit dem Reservierungsbuch ins Restaurant zurück.«
»Kann ich mir noch einmal das Zimmer ansehen? Wären Sie so freundlich, es mir zu zeigen?«, bat er.
»Das Zimmer ist immer noch versiegelt, aber für Sie darf ich es wohl öffnen. Ich hole geschwind die Generalkarte.« Sie griff unter die Anmeldung. »Es liegt immer eine hier unter der Kassenschublade.«
»Es wird nicht nötig sein, das Zimmer zu öffnen. Ich möchte nur einmal das Schloss begutachten.«
Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock und kamen dann über einen gepflegten, mit dem Logo verzierten und überaus schalldämpfenden Teppichboden zum Zimmer 206. Schloss und Zarge waren völlig unversehrt, stellte der Kommissar fest.
Berendtsen bedankte sich und verabschiedete sich. Im Herausgehen drehte er sich noch einmal um und wandte sich an Anita. »Und machen Sie sich keine Vorwürfe wegen des Postfachs. Auf solche Tricks ist man einfach abseits der Großstadt oder in der Heide nicht gefasst. Schon alleine weil die Gäste überwiegend Urlauber sind. Bei denen ist man einfach nicht so argwöhnisch.«
Soviel zu dem Vorwurf, die Polizei aus Hamburg wisse nicht, was in der Heide abgeht, dachte er sich. Dann stieg er in sein Auto und machte sich auf den Weg.
Langsam und ganz in Gedanken versunken fuhr er die kleine Straße entlang und bog dann in einen der vielen kleinen Wirtschaftswege der Heide ein, um zum Haus der Friedmanns eine Abkürzung zu nehmen. Hinter einer Kurve tauchte ein ganzer Schwarm von Fahrrädern vor ihm auf. Er musste anhalten, um sie alle vorbeifahren zu lassen. Er sah er es als einen Hinweis an und stellte seinen Wagen ab. Er folgte eine Weile einem schmalen Fußweg in einen kleinen Hain und genoss die Ruhe. Wieder zurück, setzte er sich schließlich auf die Bank und ließ seine Augen über die Heidewiesen schweifen. Es gefiel ihm hier und er ließ seinen Gedanken freien Lauf. Seine Frau hatte in der nächsten Woche Geburtstag. Gut, dass es ihm jetzt eingefallen war. Er nahm sein Smartphone aus der Tasche und schlug den Kalender auf. Der Eintrag war bereits enthalten, sogar mit Erinnerung. Einen Geschenkvorschlag hatte er auch schon dort stehen: sie hatte vor einiger Zeit erwähnt, dass sie sich über neues Grillbesteck freuen würde. Das konnte man wohl besorgen. Erst jetzt merkte er, wie müde er war. Schließlich war er seit zwei Uhr nachts auf den Beinen und jetzt war es Mittag. Er löste seine Krawatte, zog sein Jackett aus, faltete dieses zu einem Kopfkissen zusammen und legte sich hin um etwas nachzudenken. Wie war der Mann in das Zimmer gekommen? Mit einem Messer? Geht nicht bei diesen Türen. Es war etwas Holz abgesplittert und etwas Farbe war auch abgeschabt. Aber richtig überzeugt von seiner Theorie war er nicht. Das war bei anderen Türen auch teilweise so. Nein, er musste eine Generalkarte gehabt haben. Vielleicht aus dem Fach unter der Kassenschublade? Nachgemacht? Wenn man Scheckkarten nachmachen konnte, dann auch diese Zimmerkarten. Oder dieses Mädchen selbst hatte ihn hereingelassen? Doch welches Argument hätte er vorbringen können, damit sie ihm Einlass gewährte. Vielleicht hatten sie sich gekannt?
Als er aufwachte, war es zwei Uhr. Eine halbe Stunde war vergangen, nachgedacht hatte er nicht viel, aber er war deutlich ausgeruhter. Da er zu dieser Mittagszeit bei Friedmann nicht stören wollte und an seinen leeren Magen dachte, der sich bemerkbar machte, fuhr er zum Hotel zurück und bestellte ein Stück Marzipantorte, für deren Güte das Hotel bekannt war, und setzte sich auf die Terrasse des Hotels um die Sonne und die nicht eingeplante Ruhepause zu genießen. Bevor er aufbrechen wollte, ging er zunächst zur Kuchentheke und sah sich die Kalorien an, die dort ausgestellt waren, und überlegte, ob er seiner Frau ein Stück von der Marzipantorte mitbringen sollte, die sie mit Leib und Seele genießen konnte, verzichtete dann allerdings darauf, weil er wusste, dass sein Wagen noch eine Weile in der prallen Sonne stehen würde, wenn er bei den Friedmanns vorbei fuhr. Dann schlenderte er bewusst gelangweilt durch die Empfangshalle und besah sich die an der Wand dekorierten Auszeichnungen verschiedener Reiseführer, die Empfehlungen zweier Automobilclubs und dann auch neuerer Auszeichnungen einiger Hotelbewerter aus dem Internet. Dabei hielt er immer die Rezeption im Auge und bemerkte, wie diese wiederholt unbesetzt war. Einmal für so lange, dass ein penetrant durchschellendes Telefon nicht abgenommen wurde. Es wäre genug Zeit, eine Blanco-Karte an sich zu nehmen und damit eine Generalcodierung vorzunehmen, wenn nicht sogar die Generalkarte zu finden.
»Ich denke, so könnte es gewesen seine«, dachte er laut. Dann machte er sich auf zum Haus Friedmann.
Die Haustür öffnete sich gleich nach dem Schellen, denn Peter Friedmann und Herr Schwertfeger standen hinter der Tür, da auch der Kommissar gerade gekommen war. Berendtsen hatte seinen Wagen bereits in der Einfahrt stehen sehen.
»Herr Friedmann, guten Tag, mein Name ist Berendtsen, Hauptkommissar von der Hamburger Kriminalpolizei. Darf ich Sie noch einmal sprechen?«
»Kommen Sie nur herein. Ihr Kollege Herr Schwertfeger ist gerade im Moment gekommen. Er hatte Fragen zu diesem Zettel, den die ermordete Dame aus dem Lamm bei sich hatte.« Er ging vor ins Wohnzimmer, wo sich die Familie und der Kommissar versammelt hatten. »Nehmen Sie doch Platz. Meine Mutter müssen Sie bitte entschuldigen, sie hat sich hingelegt. Diese Beruhigungsspritze zeigt jetzt Wirkung.«
Die beiden Beamten begrüßten die, wie sie vermuteten, Tochter des Hauses, Peters Schwester, die in dem Sessel saß. Sie trug immer noch die Jeans von heute Morgen mit dem T-Shirt, auf dem ein Segelschiff zu sehen war, das ihm in anderem Zusammenhang bekannt war. Es war die Gorch Fock, wie ihm nach kurzem Nachdenken wieder einfiel, das Schiff der Marine, so wie es auf dem alten Zehn-Mark-Schein abgebildet war. Schwertfeger setzte sich auf das Zweiersofa, was den beiden Beamten angeboten worden war, Berendtsen aber stellte sich ans Fenster und sah in den Garten hinaus. Sein Kollege griff in seine Jackentasche, holte den Zettel hervor und legte diesen ca. 4 x 4 cm kleinen Klebezettel, das Bild und den Pass des toten Mädchens auf den Tisch. »Können Sie etwas dazu sagen? Vielleicht kennen Sie das Logo? Das Wort darunter lautet Grepétachys. Sagt Ihnen das etwas?«
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