Helen dachte an ihren Schwiegervater. Der war der einzige, der noch mehr Zucker in seinen Kaffee tat und der war schon immerhin 87 Jahr alt. So schlecht konnte das also nicht sein. Konnte man sich auf diese Weise quasi von innen heraus kandieren und damit konservieren?
Lisas Haus war ganz in weiß und beige gehalten. Edle Möbel, immer ein frischer Blumenstrauß auf dem sonst leeren Esstisch und Kaffeetassen aus dem teuren Restaurant vor der Verbotenen Stadt. Helen nahm sich vor, nachher zumindest mal die alten Magazine und Schulaufgaben vom Tisch zu räumen. Dann fiel ihr wieder ein, was sie heute davon abgehalten hatte.
Reichlich durcheinander erzählte Helen von der Leiche. “Das mit Cora ist wirklich unglaublich.” nahm Lisa den Faden auf und setzte sich zu Helen. “Ich war ja noch letztens mit ihr beim Yoga und da war sie wie immer. Über Tote redet man ja nicht schlecht, aber eben — wie immer. Natürlich habe ich schon über den Buschfunk von der Sache gehört, aber dass du am Tatort warst, hat man mir noch nicht zugeraunt. Die Damen waren zu beschäftigt, über die anderen Sachen aus Coras Leben zu diskutieren.”
“Ach was gibt es denn da Interessantes zu wissen?” fragte Helen gespannt. “Nix besonderes weiß man wohl noch nicht. Du weißt ja, Legenden und Gerüchte sprießen hier noch besser als Bambus. Jetzt waren natürlich alle ihre Freunde. Aber nicht jede mochte, wenn Cora so manchem Arbeitskollegen ihres Mannes in die Suppe gespuckt hat. Die spielte diese Nummer, dass sie den Ehefrauen seiner Untergebenen hier manchmal Hoffnungen darauf machte, dass man sie zum privaten Grillen einlädt oder ein gutes Wort bei ihrem Mann einlegt. Da traute sich keine von denen, ihr einen Gefallen abzuschlagen. Gleichzeitig war sie in allen möglichen Komitees zu gerne gleich federführend mit dabei und hatte dabei ihre eigenen Interessen stets fest im Blick. Ihrem Vermieter hat sie ständig mit Drohungen wegen angeblicher Mängel im Haus das Leben schwer gemacht. Und mit ihrer Tochter hat sie ziemlich aufdringlich angegeben. Mit der hatte sie Großes vor. Sie hat Unsummen in private Tennisstunden und sonstigen Unterricht investiert. Es soll ein top College für die Kleine werden, wenn sie dieses Schuljahr fertig gemacht hat. Über den Sohn behielt sie diskrete Zurückhaltung. Der ist wohl eher missraten, tuschelt man.” Lisa zuckte die Achseln “Aber alles in allem nichts, was nicht ganz normal wäre hier.”
“Kann ich auch noch nichts Besonderes daran finden." Helen spielte am ausgeleierten Bund ihres Pullis. "Aber vielleicht war es auch nur ein Unfall? Sie hat ihre Unterlagen sortiert und dann ein paar Tabletten genommen, um bald schlafen zu gehen. Da kommt plötzlich Besuch, sie räumt die Sachen nicht auf, trinkt etwas, vergisst, dass sie schon ihre Tabletten genommen hat, nimmt noch einmal welche und schläft dann ein. Dann war es ein Versehen!” Ein tragisches Versehen? Helen fand das keine schlechte Theorie, sie selbst war schließlich auch ganz schön vergesslich! Ihr selbst hätte das locker so passieren können. Sie nahm sich vor, im Alter sicherheitshalber besser Tablettendöschen mit Zeitschaltuhr anzuschaffen… Lisa runzelte die Stirn, sie fand das offensichtlich nicht halb so einleuchtend: ”Cora, die immer alles ganz genau nimmt?” Die ordentliche Lisa konnte sich natürlich so einen Hergang nicht vorstellen!
Nun wollte Helen auch nicht lethargisch sein und fragte: “Wo ist denn ihre Tochter, das Genie? Und warum war Cora nicht in den Ferien weggefahren? Die musste doch sonst immer die erste an einem unentdeckten Urlaubsort sein?”
“Ihre Tochter ist zusammen ein paar Mädchen aus ihrer Klasse in einem Camp. Ich glaube, die machen irgendwie ein soziales Projekt oder so. Streichen die nicht ein Waisenhaus im Südwesten des Landes? Jedenfalls ist sie deshalb zwei Wochen nicht da. Und weil Bernd auf Geschäftsreise ist, wollte Cora nicht weit weg fahren. Ich dachte eigentlich, sie wollte mit ein paar Freunden auf einen Kurztrip in ein Ressort an der Mauer fahren. Irgendwas mit Spa und teurem Essen. Wollten die nicht sogar noch extra eine Party der verrückten Hüte feiern?” Lisa war einfach immer gut informiert.
Das erklärte alles. Deshalb war Cora alleine gewesen und keiner hatte den Unfall bemerkt, bis es zu spät war. Oder hatte Cora bewusst genau diesen Zeitpunkt ausgewählt, um alleine zu sterben? Sie hatte noch ein paar Sachen sortieren wollen und dann hatten die Tabletten früher gewirkt und sie war friedlich eingeschlafen.
“Mama, kann ich bei Lisa schlafen?” Heide setzte ihr liebstes Gesicht auf. Helen fühlte sich etwas durcheinander von den Geschehnissen des Tages, und obwohl es ihr etwas peinlich war, wollte sie in Zeiten der Krise lieber ihre Familie eng um sich wissen, damit sie im Notfall alle schnappen und retten konnte.
“Wie wäre es morgen Liebes? Da kannst du schön deine Sachen packen. Heute Abend gucken wir einen Film und essen Popcorn. Ok?” Paul kam auch dazu: “Aber auf keinen Fall wieder so ein blödes Musical, Mama! Wir wollen ganz sicher nicht noch einmal ‘Sound of Music’ gucken!” Sofort fingen die beiden an, sich über den Film zu streiten. Immerhin die Kinder waren noch genau so wie immer. Das beruhigte Helen irgendwie.
Nachdem alle Schultaschen, Schuhe und Haarbänder eingesammelt waren, nahm sich Helen die Kinder und ging nach Hause. Die Oktobersonne spiegelte sich friedlich auf dem See. Die Arbeiter waren schon heimgekehrt.
Kurz vor Mittag legte ihr kleines Boot an. Sonya und Ruth standen erwartungsfroh an der Reling. Die Sonne strahlte hoch am blauen Himmel, das endlose Meer glitzerte einladend. Schon vom hölzernen Landungssteg aus konnte man Korallen und Fische im klaren Wasser erkennen. Am weißen Strand herrschte eine zufriedene Ruhe, ein paar Gäste badeten oder schnorchelten, vier sonnengebräunte Jungs spielten Volleyball, einige jüngere Kinder dekorierten Sandburgen mit Muscheln. Stolz schauten ihre Eltern ihnen dabei zu und machten mit übergroßen Spiegelreflexkameras Fotos. Eine Frau winkte nach oben. Ein Mädchen rief seine Freunde zu einem besonders coolen Stück Strandgut. Urlaub.
Drahtige Männer mit blauen T-Shirts, dezentes Hotellogo am Kragen, luden ihr Gepäck vom Boot. Zwei kleine aber starke Männer halfen am Pier, dass beim Aussteigen keiner ins Wasser plumpste. Ein charmanter Asiate mit sehr gepflegtem Aussehen begrüßte sie herzlich: “Ihr Zwei müsst Ruth und Sonya sein. Ich bin Jimmy. Herzlich Willkommen bei uns auf der Insel! Ist das euer erster Aufenthalt hier?”
Hier, das war eine kleine, wirklich kleine Insel mitten im Meer, nicht weit von Singapur. Erfolgreiche Investoren aus Singapur hatten sich einen Traum vom nachhaltigen Tourismus erfüllt. Außenherum Korallenriff, tiefblaues Meer, blitzender Himmel und darauf ein sorgfältig errichtetes, plastikfreies Ökoresort mit Villen aus Treibholz im Pfahlbaustil. Ideal für ruhebedürftige Leute, die für eine Nacht auf einer exklusiven Insel gerne einen stolzen Preis zahlten.
„Sobald die Anmeldung erledigt ist, zeige ich Euch Eure Unterkunft und die Insel.” Es war so bilderbuchmäßig, dass es schon fast kitschig war: weißer Sandstrand ohne einen Krümel Müll, endloses Meer, Kokospalmen, Bananenbäume, duftende Frangipani, Jasmin, ein paar gewaltige Urwaldriesen und Blüten in satten Farben.
Mit einem gehörigen Schuss Misstrauen hatte Ruth die Hotelseite im Internet betrachtet. Zynisch hatte sie vermutet, man hätte die Fotos geschickt so geschossen, dass man den hässlichen Betonbunker mit dem Inselshop nicht sah oder man überhaupt nur Bilder von anderen hübschen Plätzen der Welt zusammenkopiert. Darüber wäre sie nicht überrascht gewesen. Aber nun musste sie innerlich Abbitte leisten. Sie beschloss, ab jetzt positiv und vertrauensvoll zu sein. Es war wirklich genauso wie im Prospekt. Jetzt konnte einfach nichts mehr schief gehen mit ihren Ferien.
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