Auf der Insel gab es ungefähr ein Dutzend Villen mit einem oder mehreren Schlafzimmern. Jedes Haus stand direkt am Strand. Sonya und sie bezogen ihre Unterkunft am Ende des Weges gen Westen. Unten waren Liegen und Hängematten, sie hatten oben zwei kleine Zimmer, die über einen Holzsteg miteinander verbunden waren. Die Innenarchitekten hatten sich voll ins Zeug gelegt, mit den Naturmaterialien einen schlichten Eindruck zu erwecken und doch keinen Luxus auszulassen. Selbst vom Badezimmer aus bot sich ein atemberaubender Blick auf das Meer. Pittoresk ragten launische Felsbrocken aus dem Wasser.
Hinter ihrem Haus ging ein schmaler Weg. Jimmy erklärte: „Hier kann man weiterlaufen, dann kommt man auf einen kleinen Inselrundgang durch den Regenwald. Weiter hinten gibt es dann den Pool. Heute Nachmittag muss der leider kurz gewartet werden. Wer etwa eine Viertelstunde läuft, landet dann wieder vorne an der Strandbar. Es wird Euch hier an nichts fehlen!“ versprach er. „Mittagessen ist ab zwölf Uhr bis kurz vor zwei vorne in den ersten zwei Hütten neben dem Pier. Kommt einfach, wann immer ihr soweit seid. Es ist recht familiär, sicherlich werdet ihr schnell ein paar unserer Gäste kennenlernen.“
Ruth war kein großer Freund von solchen ersten Begegnungen. Am liebsten suchte sie sich einen separaten Tisch und hörte den Leuten mit Sicherheitsabstand zu. Nach solch einer Observation konnte sie sich dann in Ruhe aussuchen, mit wem sie sich noch unterhalten wollte.
Sie war schon so lange im Ausland, dass sie die immer gleichen Fragen nicht mehr hören konnte. Und inzwischen hatte sie schon so oft erzählt, woher sie kommt und wo sie gelebt hat, dass sie manchmal schon gar nicht mehr wusste, ob es wirklich wahr war. Vielleicht hatte sie es auch nur schon so oft gesagt, dass sie selbst dran glaubte? Jedenfalls sagte sie jetzt immer nur noch, sie komme aus Magdeburg und wohne in Peking. Komischerweise schienen hier in Asien nicht viele Leute Freunde in Magdeburg zu kennen. Wenn man aus Berlin kam, musste man automatisch immer gleich besprechen, in welchem Kiez man genau wohnte und bei welchem Bioladen man immer eingekauft hat. Darauf hatte sie schon mal gar keine Lust. Bei Peking wiederum konnte man sich gleich über den Smog unterhalten und über die Chinesen quengeln.
Ruth hörte lieber anderen Leuten zu, als dass sie über sich selbst sprach. Sie war nicht groß, eher schmal und mit ihren grauen Haaren, der kleinen Brille und einem sonst recht unauffälligen Gesicht, trauten ihr viele Leute ohnehin nicht viel zu. “Wahrscheinlich als Deutschlehrerin an so einer kleinen Uni tätig, zum ersten Mal im Ausland”, schienen sie zu denken und fingen dann lieber gleich an, von sich zu erzählen. Ruth war das nur recht. Sie wollte lieber ihre Ruhe.
Das schien auch ihrer Begleiterin recht zu sein. Ihre Kollegin Sonya hatte sie ja zu dem Trip aufgefordert. Sonya war hübsch, jung und ungebunden. Sie hatte lange, blonde Haare und eine helle Haut. Ruth vermutete, dass ihre Eltern aus Osteuropa kamen. Nachgefragt hatte sie noch nicht, und sie war dankbar, dass Sonya ihr auch nicht gleich ihren Familienstammbaum erzählt hatte. Sonya wollte Leute kennenlernen. Ruth wusste nicht viel von ihr, aber sie schien keinen Partner zu haben und hatte schon bei der Ankunft die anwesenden Herren einer Musterung unterzogen. “Weißt du, Ruth”, hatte sie gesagt, “ich will natürlich kein Scheidungsgrund sein. Aber wenn einer gut aussieht, was auf dem Konto sitzen hat und sonst gut auszuhalten ist, dann ist es eben nicht wahrscheinlich, dass er in meinem Alter auch noch Single ist. Geschieden und einsam, das wäre doch was für mich. Hier auf der Insel wird es davon wohl nicht so viele geben, aber träumen wird man ja dürfen.”
Für gesunden Menschenverstand hatte Ruth viel Verständnis. Nicht jede Beziehung war glücklich und die Ehe war ja bekanntlich ein Hafen. Und da lauerten eben Freibeuter auf Gelegenheit zum großen Fang. Und Sonya schien eben auf ein Schiff zu lauern, dass seinen Weg zurück in den Hafen verloren hatte. Ruth hatte schon so viel verstanden, dass Sonya nach einem größeren Modell Ausschau hielt, etwa einem Dreimaster mit großer Kapitänskajüte.
Also wunderte sich Ruth nicht, dass Sonya etwas Zeit brauchte, um sich für das beste Outfit für ein legeres Mittagessen in den Tropen zu entscheiden. Und als sie endlich zum Restaurant kamen, Sonya im weißen Leinenkleid mit tiefem Ausschnitt am Rücken und einer großen Sonnenbrille, waren nicht mehr viele Plätze frei.
Der Kellner führte deshalb Sonya und Ruth an die große Tafel in der Mitte. Dort saßen schon drei Männer und zwei Frauen, statt Kindern führten diese große, teure Sportuhren und edle Sonnenbrillen mit sich. Ruth lächelte über den zufriedenen Gesichtsausdruck ihrer Begleitung, sie sah erwartungsfroh aus wie ein Kind vorm Spielzeugladen.
Sonya zeigte gleich ihre beste Seite und weißen Zähne: “Hallo, wir dürfen uns doch hier hin setzen? Ich bin Sonya und das ist meine Kollegin Ruth. Ich bin erst vor kurzem nach Peking gezogen, dort arbeite ich in einer Agentur. Jetzt brauchte ich aber ein bisschen Sonne und so habe ich Ruth überredet, mit mir hierher zu kommen. Wunderschön ist es hier, oder?”
Ruth hatte schon befürchtet, dass sie nun endlos diese ewig gleichen Fragen austauschen mussten: “Woher kommt ihr? In welchem Land wohnt ihr gerade? Wo habt ihr davor gewohnt? Wie lange seid ihr schon im Ausland?” Erleichtert stellt sie fest, dass diese hier sich aber schon länger zu kennen schienen. Sie sagten nur ihre Namen und als der Kellner Ruth und Sonya nach ihren Getränkewünschen fragte, wandten sie sich wieder ihrer Unterhaltung zu.
In solchen Begegnungen fiel Ruth stets halbwegs belustig auf, wie man es höflich vermied, sich nach den Einzelheiten der jeweiligen Jobs zu fragen. Diskretion war da oberste Devise. Wenn der Andere sein Geld mit windigen Fonds oder Geschäften mit fragwürdigen Machthabern verdiente, wollte man das vielleicht auch lieber nicht so genau wissen. So ein netter Kerl, ist doch egal, was er beruflich macht!
Lieber unterhielt man sich ewig über vorige Urlaubsziele. Bis ihr Salat kam, hörte Ruth an den Nebentischen Gesprächsfetzen von: “Wir waren davor in Angkor Wat.” “Das letzte Mal auf Bali…”, “1985 war ja auch auf Ko Samui in Thailand noch…”, “Als wir im Frühsommer in der Ägäis gesegelt sind…”. “Und man stelle sich vor, so ein mieser Service in der Senior Suite von einem 5-Sterne-Hotel” Alle lachten mitwissend, bis der Nächste eine Anekdote aus der Vielflieger-Lounge oder dem Yachtclub hatte.
Ruth war ja noch aufgewachsen mit Ermahnungen, bescheiden zu sein. Aber das war hier nun wirklich keiner. Je doller, das Ziel, desto besser. So wie wenn sich Hunde beschnüffeln, so wurden hier Urlaubsziele verglichen. Die pubertären Jungs hatten früher ihre Mopeds frisiert und mit ihren Toren beim Bolzen geprahlt. Das Prinzip war das Gleiche, nur eben etwas exotischer. Hier konnte man anhand der Preiskategorien im Urlaub abschätzen, zu welche Klasse Expat der Andere gehörte. Reiste der immer nur nach Phuket oder auch schon nach Birma? Wenn der Andere dann ebenfalls weit gereist und welterfahren war, konnte Freundschaft geschlossen werden.
Neben ihr wurde laut gelacht und sie wandte die Aufmerksamkeit auf den schlaksigen Mann neben ihr. Der strich sich die halb langen, grau melierten Haare aus dem Gesicht, das von einem fliehenden Kinn und eng stehenden Augen dominiert wurde. Durch das Gelächter angefeuert, gab er die nächste Anekdote zum Besten: “Weißt du noch, Lydia, da waren wir gemeinsam unterwegs. Du warst wieder mal nicht fertig, als wir loswollten. Dann war da dieser Unfall direkt auf der Strecke vom Hotel bis zum Präsidentenpalast und wir waren viel zu spät dran. Man stelle sich vor, alle da: der Gouverneur, der Chef vom Aufsichtsrat, der Botschafter alle sollen kommen, nur ich sitze noch mitten im Stau. Da fällt mir mein alter Freund Bob ein, der kannte den Polizeipräfekten und plötzlich hatten wir eine Motorradstaffel, die uns schnell und sicher ans Ziel brachte. Danach sagte ich noch zu Lydia, das gibt es aber jetzt nicht jedes Mal, wenn du zu lange im Bad brauchst.” Verständnisvolles Gelächter: Jaja, kennen wir. Hatten wir auch schon mal, nur da….
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