Die Musik, der Wein, das weiche Licht, Seidenkissen und ein iPad. Macht man es sich so gemütlich, wenn man sterben will? Helen hatte keine Ahnung. Sie wollte ja nicht sterben. Was weiß man schon, was in den Leuten so vorgeht? Trotzdem schien es ihr irgendwie nicht ganz stimmig zu sein. Zu gerne hätte sie gewusst, was Cora auf dem iPad angeschaut hat. Fummelt man auf seinen Apps rum, wenn man auf den Tod wartet? Oder war Cora nur einfach eingeschlafen und dann erfroren. Viele sagten ja, dass die Klimaanlage sie umbringen würde. Aber wer schlief denn so fest, dass er nicht aufwachte, wenn er fror?
Helen wusste, dass das nicht gut für sie sein konnte, sich zu tief auf diese Sache einzulassen. Neugierde war ihr Problem. Sie sollte sich auf keinen Fall um Sachen kümmern, die sie nichts angehen. Sie hatte schon genug andere Sachen um die Ohren. Und ihr Mann Robert schätzte es auch nicht, wenn sie sich um die Angelegenheit andere Leute kümmerte. Aber dennoch wunderte sie sich: Valium?
Wie kam man denn an so etwas? An Schlaflosigkeit litt sie selbst bestimmt nicht, eher schlief sie zuviel. Aber mit den Ereignissen des heutigen Tages würde der Schlaf eventuell nicht so leicht kommen. Vielleicht könnte sie sich mal umhören, wie man denn an Valium kommt? Nur so, für sich selbst natürlich. Das konnte ja nicht verkehrt sein. Der Gedanke heiterte sie auf. Hier war schon mal ein Plan gefasst, der ganz und gar nicht zu bekritteln war.
Auf der Straße tat sich nun etwas. Die Leiche wurde abtransportiert. Die Polizei rückte wieder ab. Helen wusste nicht viel über die Polizeiarbeit in China, aber sicherlich hätte man den Tatort besser abgesucht, wenn man auch nur einen leisen Zweifel am Selbstmord gehabt hätte. Vielleicht war der Abschiedsbrief im Schlafzimmer gewesen? Oder vielleicht hatte Cora ganz modern ein Abschiedsvideo auf ihrem iPad hinterlassen?
Nichts für ungut. Helen musste sich selbst tadeln, wie sie bemerkte, dass sie fast ein wenig enttäuscht war, dass es hier nichts zu stöbern gab. Aber nach dem Valium würde sie sich auf jeden Fall mal erkundigen. Und bei Wang Ayi könnte sie ja mal morgen anrufen, um zu fragen, wie es ihr nach dem Schrecken ging.
Sie wärmte sich ein paar Nudeln von gestern auf und setzte sich an den Esstisch. Vielleicht hatten die strengen Frauen vom Yoga geglaubt, sie sei furchtbar unfreundlich, weil sie nicht länger mit ihnen geplaudert hatte. Das durfte so nicht stehenbleiben. Sie würde bei der nächsten Gelegenheit extra nett mit ihnen reden.
Selbstmord also. Das war ja eine Sache! Was wusste man schon, was in den Nachbarn so vor sich ging. Die sahen alle so zufrieden und gesund aus, das konnte man einfach nicht glauben, dass die auch was bedrückt. Aber natürlich gab es tausend Gründe. Das waren ja die gleichen Leute wie zu Hause auch, nur dass sie sich hier ein bisschen mehr mit Fahrer und Ayi aufspielen konnten, wenn sie denn wollten.
Helen beschloss, sich nicht mehr als nötig damit zu befassen. Cora war ihr nicht besonders sympathisch gewesen und nun wollte sie auch nicht posthum anfangen, ihr nahe zu kommen. Das fühlte sich falsch und unaufrichtig an.
Die Kinder wollten nach der Schule noch zu Freunden gehen. Als es Abend wurde, ging Helen los, um ihre Kinder wieder einzusammeln.
Mit eiligen Schritten lief Helen über die geschwungene Brücke in Richtung Clubhaus. Auf dem flachen See fuhren zwei Arbeiter in einem kleinen Kahn und holten mit langen Messern den Lotus ein. Im Sommer war der ganze Teich voll der großen, grünen Blätter, auf denen so ungerührt das Wasser abperlte und die Blüten erhoben sich elegant über der Decke aus Schwimmblättern und entfalteten ihre weißen oder rosa Kronblätter. Die verdorrten Blütenstängel sahen getrocknet sehr dekorativ aus. Ihre Tochter Heide hatte ihr letzte Woche zwei gebracht und die sahen in der Vase richtig schmuck aus. Die Arbeiter interessierten sich weder für die Schönheit der getrockneten Blüten noch für die Bedeutung des Lotus in der buddhistischen Bildkunst, sondern sie holten geduldig Pflanze für Pflanze aus dem Teich. Wahrscheinlich malten sie sich eher aus, wie gut die Lotuswurzel in ihrer Suppe schmecken würde. Sie hatten schon zwei Drittel geschafft. Im nächsten Frühjahr würde wieder auf dem ganzen Teich zartrosa Blüten schwimmen. Die Sache mit Cora wäre nicht so einfach wieder herzustellen.
Je länger Helen darüber nachdachte, desto mehr war sie davon überzeugt, dass Cora sich nicht umgebracht hatte. Eng haben sie sich wahrlich nicht gestanden, aber in der letzten Woche hatte sie überhaupt nicht bedrückt, sondern ganz vergnügt ausgesehen. Helen hatte noch gehört, wie sie für eine Grillparty nach den Ferien eingeladen hatte. Machte man das, wenn man nicht mehr leben wollte? Und waren sie nicht überhaupt in Peking, damit ihre jüngste Tochter hier ihre Schule beendete? Sie hätte das doch ihrem Kind nicht angetan. Nein, nein, das war einfach zu abwegig. Aber was war dann passiert? War es ein Unfall gewesen? Hatte sie vielleicht einfach nur die Tabletten verwechselt? Aber Cora war der korrekte Typ gewesen. Das hatte Helen ja immer so genervt.
Dass irgendein Fremder in ein Haus eindringt und Leuten Tabletten in den Mund stopft, war so gut wie unmöglich. Um die Wohnanlage lief eine hohe Mauer mit Elektrozaun und Videokameras. An den zwei Eingängen standen Wachen, die niemanden reinließen, der nicht angemeldet war.
Hat jemand einfach nur die Valium unter den Tee gerührt und dann gewartet, bis Cora ihn eines Tages trinkt? Nein, unwahrscheinlich. Das Risiko war einfach zu groß, dass Cora nur die halbe Dosis erwischt, dass es jemand anders trinkt oder dass der Versuch entdeckt wird.
Eher hatte ihr jemand an dem Abend selbst die Tabletten verabreicht. Das müsste man doch schnell rausfinden können. Jedes Auto, das in die Anlage fuhr, wurde registriert und bei Besuchern stellte die Wache an der Schranke per Anruf auf dem Festnetz sicher, dass der Gast erwartet wurde. Das konnte nur heißen, dass Coras Besucher entweder bei den Wachleuten schon gut bekannt war, oder dass es jemand war, der hier wohnte. Wenn man also nicht von einem daher gelaufenen Wahnsinnigen ausgehen konnte, wurde die Sache geheimnisvoll. Wer hat Cora den ewigen Schlaf gebracht?
Ihre düsteren Gedanken wurden rüde unterbrochen: “Mensch!” Helen sprang entsetzt auf den Bürgersteig. Da hätte sie doch fast so ein achtjähriger Junge umgefahren, der von seinen Eltern einen Elektroroller bekommen hatte. “Pass doch auf!” Helen regte sich furchtbar auf. Das Ding fuhr bestimmt dreissig Stundenkilometer und dieser Dreikäsehoch raste wie eine gesengte Sau. Die Eltern schien es nicht zu kümmern, wie ihr Junior durch die Anlage preschte. Die waren nirgendwo zu sehen, wahrscheinlich hatten sie Wichtigeres zu tun, als nach ihrem Nachwuchs zu schauen. Hoffentlich ging das Ding bald kaputt!
Sie beschloss, es ihnen gleichzutun. Die Kinder sahen ganz zufrieden aus, wie sie mit Lisas Kindern im Garten quatschten, da machte sie lieber noch ein ungestörtes Kaffeekränzchen mit Lisa. “Was für ein Tag, Lisa! Und obendrein hätte mich diese Göre auf dem Roller gerade fast umgenietet!”
Lisa drückte sie: “Hallo Helen! Den kenn ich auch. Diese Eltern haben eine Ayi, die ist halb so schwer wie ihr dicker Junge und die kann dem gar nichts sagen. Die Eltern finden, der Junge muss lernen, sich durchzusetzen. Von wegen später mal mit Führungsqualitäten und so. Aber bevor ich mich weiter darüber aufrege, erzähl mir lieber, was bei dir sonst noch los ist. Die Kinder sind ja recht zufrieden da draußen. Komm nur rein. Willst du einen Kaffee?”
“Setz Dich mal, Du siehst ganz verstört aus. Viel Zucker? Richtig?” Helen schämte sich ein bisschen, dass Lisa wusste, dass sie bei Kummer immer gleich an Trostfutter dachte. Die disziplinierte Lisa trank ihren Kaffee natürlich schwarz. Aber Lisa war diskret genug, sie weder auf Karies noch auf Hüftspeck hinzuweisen. Ohne eine Augenbraue hochzuziehen, schüttete sie zwei Ladungen Zucker in den Kaffee.
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