Als ihr Rumpf in Liverpool zum ersten Mal das Salzwasser der See gekostet hatte, war sie ein hochmodernes Novum gewesen. Das Dampfkanonenboot stellte einen Kompromiss dar, zwischen der Erfordernis von schnellen und gut bewaffneten Einheiten, und der Notwendigkeit, die Schiffe kostengünstig und in größerer Stückzahl bauen zu können. Meist brachten Kompromisse etwas hervor, das niemanden wirklich zufrieden stellte. Dies galt auch für H.M.S. Thunderer .
Ihre Pratt & Whitney-Dampfturbinen brachten sie auf fünfundzwanzig Kilometer in der Stunde und sie war, für die damalige Zeit und ihre Schiffsklasse, ungewöhnlich schwer bewaffnet. Anstelle der sonst üblichen Rotationsdampfgewehre führte sie eine einzige Dampfkanone, wie sie sonst erst auf den großen Fregatten ihrer Majestät zu finden waren. Die Thunderer war ein schnelles und stark bewaffnetes Schiff, und diese Vorzüge mussten mit einigen Nachteilen bezahlt werden. Es gab keine effektive Panzerung, und so gut wie keinen Komfort für die siebzehn Männer und Frauen der Besatzung. Die Lordadmiralität hielt Bequemlichkeit auch nicht für erforderlich, da die neue Thunderer-Klasse nur in küstennahen Gewässern operieren sollte.
Inzwischen war das kleine Schiff alt geworden, die Kolben der Dampfmaschinen waren ausgeschlagen, und die Ventile klapperten und zischten, aber es war ein Schiff, es schwamm und es war noch immer Bestandteil der Navy.
Ein Kompromiss galt auch für die Zusammensetzung ihrer Mannschaft. Die Offiziere und einige wenige Seeleute gehörten der Royal Navy an, die meisten waren jedoch Fischer von den umliegenden Inseln, die sich der königlichen Marine verdingten, um ihre Familien ernähren zu können.
Die beiden ungleichen Männer auf der Brücke der Thunderer liebten ihr altes Mädchen gleichermaßen, wenn auch aus unterschiedlichen Beweggründen.
Für Captain Eugenius McDenglot war es das erste eigenständige Kommando, so klein es auch sein mochte. Er war Anfang der Dreißig, schlank und hochgewachsen. Ein gut aussehender Mann, dem die Offiziersuniform der königlichen Marine eigentlich ausgezeichnet stand und den man vielleicht für ein Anwerbungsplakat verwendet hätte, wenn da nicht ein paar Eigenheiten gewesen wären, die McDenglot eher ungewöhnlich erscheinen ließen. Über der regulären Uniformhose trug der Schotte einen Kilt von schlichter dunkelgrüner Farbe, und statt des glatt rasierten Gesichtes oder des sauber gestutzten Oberlippenbartes, verbarg er seine fein geschnittenen Gesichtszüge hinter einem buschigen Vollbart. Es machte ihn weit älter als er tatsächlich war und nur die unternehmungslustig blitzenden Augen verrieten das Feuer der Jugend. Eugenius McDenglot war der Chef des Clans der McDenglots und als solcher versuchte er, wenigstens äußerlich einem würdigen Patriarchen zu gleichen. Diese Eigenheit hatte schon zu Konflikten mit vorgesetzten Offizieren geführt und sich auch als Hemmschuh für die Karriere des Schotten erwiesen, doch so sehr er die Royal Navy liebte, so fühlte er sich zugleich auch den Traditionen seiner schottischen Heimat verbunden.
Finnegan Walker war der Chief an Bord. Er hatte ungefähr die Größe des Captains, war jedoch ungleich schlanker. Man konnte ihn guten Gewissens als hager bezeichnen und der Engländer sah dies durchaus als Vorteil. Seine Statur erlaubte es ihm, auch in die engsten Winkel an Bord zu gelangen. Er liebte die alte Thunderer , da er einst an ihrem Bau mitgewirkt hatte und jede Schraube und Platte, jedes Ventil und jedes Rohr an Bord kannte. Seine Fähigkeiten hielten das „alte Mädchen“ am laufen. Zudem verfügte der Chief über die Fähigkeit, die Besatzung als Einheit zusammenzuhalten. An Bord eines Dampfkanonenbootes wurde das sehr geschätzt, denn unter den siebzehn Männern und Frauen gab es kaum Privatsphäre. Streitigkeiten schlichtete Finnegan Walker mit seinem englischen Humor oder seinen überproportional großen Händen, die einer Bärenpranke zu Ehren gereicht hätten.
Die Brücke der Thunderer war gerade groß genug, die beiden Männer und einen Dritten, den derzeitigen Rudergänger, aufzunehmen. Spötter behaupteten, ein Vierter müsse sich dick einölen, um sich irgendwie dazwischen quetschen zu können. Der Rudergänger stand am Rad und überwachte zugleich die Anzeigen und Ventilhebel des Steuerpultes. Die gläsernen Fenster der kastenförmigen Brücke waren mit metallenen Streben aufgeklappt. Inmitten des Nebels war es feucht und kühl, doch die Männer wollten sich keinen Laut entgehen lassen, der von draußen hereindringen mochte. Ohne direkte Sicht war die Brückenbesatzung auf ihr Gehör und die Augen des Beobachters im Mast angewiesen.
Dessen Stimme wurde nun erneut hörbar. „Schiff voraus. Hält auf die Küste zu. Ich denke, es steuert Skye an.“
Eine der Augenbrauen von Eugenius McDenglot bewegte sich unmerklich. „Ist eine Flagge zu erkennen?“
„Keine Flagge gesetzt“, kam die Antwort.
Jetzt rutschte auch die zweite Augenbraue hoch. „Ein Schmuggler?“
„Negativ, Captain. Dafür ist es zu groß. Es hält noch direkt auf uns zu und ich kann die Seitenlinien des Rumpfes nicht erkennen, aber ich schätze, es ist wenigstens ein Zweimaster. Er hat die typischen Konturen eines Kriegsschiffes. Wie erwähnt, keine Flagge am Vormast, aber ich möchte wetten, es ist ein Franzose.“
„Dann ist es auch ein Franzmann“, stimmte McDenglot zu. Etwas leiser wandte er sich an Finnegan Walker. „Ich bin nicht so verrückt gegen seine Augen zu wetten. Wenn Jordan meint es sei ein Franzose, dann stimmt das auch.“
Der Chief wippte leicht auf den Fersen. „Was hat ein Froschfresser hier oben verloren? Noch dazu ohne Hoheitsfahne? Da stimmt etwas nicht, Captain.“
„In der Tat. Juckt die Nase?“
„Und wie“, versicherte der Chief.
„Es könnte trotzdem ein Schmuggler sein“, überlegte Eugenius McDenglot. „Wir befinden uns offiziell nicht im Krieg mit dem Franzosenkaiser, auch wenn es ein gegenseitiges Handelsembargo gibt. In London zahlt man eine Menge Goldvictorias für eine Flasche echten französischen Champagners.“
„Kann ich nicht verstehen“, warf der Rudergänger ein. „Ich hab es Mal probiert und das Zeug schmeckt wirklich übel.“
„In den besseren Kreisen ist es Pflicht, dass es gut schmeckt“, versicherte der Captain grinsend. „Obwohl man dort wissen sollte, dass nichts über einen guten schottischen Maltwhiskey geht.“
„Oder ein gut temperiertes Ale“, fügte Finnegan hinzu.
Der Captain verzichtete auf einen unpatriotischen Kommentar. Er hatte sich nie mit warmem Bier anfreunden können. „Nun, jeder hat so seine Vorlieben“, meinte er diplomatisch. „Wie dem auch sei, da draußen, außerhalb des Nebels, schwimmt ein Franzose, und das muss etwas zu bedeuten haben. Hier oben im Norden treibt sich normalerweise kein Froschfresser herum und wenn der Bursche nicht einmal Napoleons Trikolore gehisst hat, dann hat er auch etwas zu verbergen.“
Die Katastrophen und Unruhen so vieler vergangener Jahre hatten zu dramatischen Veränderungen auf dem europäischen Festland geführt. Es war eine Epoche der Bürgerkriege, in denen die Nationen zu stark geschwächt waren, um noch gegeneinander Kriege um die verbliebenen Ressourcen führen zu können. Nur Frankreich war ungewöhnlich stabil geblieben und sogar gestärkt aus dieser furchtbare Zeit hervorgegangen. Die Pariser Aufstände hatten ihr Ende gefunden, als Napoleon III. den Thron bestieg und die alte Republik unter seinem Banner einte. Es schien fast, als hätte ganz Frankreich nur auf ein solches Symbol alter Einheit gewartet, denn der neue Franzosenkaiser hatte einen unvergleichlichen Siegeszug über den Kontinent angetreten. Vielleicht waren die anderen Nationen zu geschwächt oder einfach nur der Kämpfe müde gewesen, denn die meisten hatten sich Napoleon rasch unterworfen. Preußen hatte zunächst Widerstand geleistet, doch nachdem sich Bayern mit Napoleon verbündete, war sein Ende abzusehen gewesen. Viele Preußen, wie man alle Deutschen jenseits der alten Weißwurst-Grenze nannte, waren in die nördlichen Länder geflohen, andere dienten nun dem Franzosenkaiser. Jede Eroberung füllte die geschwächten Ränge seiner Armee erneut auf, und außerhalb der Grenzen des Kaiserreiches nannte man die Vasallen Napoleons schlicht „Franzosen“, obwohl dies, zumindest nach Geburtsland, keineswegs immer zutraf. Seine Truppen waren ausgedünnt und mussten eine immens lange Grenze bewachen. Bevor Napoleon erneut seinen Eroberungsgelüsten nachgeben konnte, musste seine Armee erst wieder zu Kräften kommen. Dies mochte der Grund sein, warum England noch immer ein unabhängiges Königreich war.
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