Um vier Uhr morgens war es dann soweit. Die Stimme des Lautsprechers weckte Toran aus seinem Schlaf, in den er gefallen war, nachdem er sich zuletzt müde auf der Bank zusammengekauert hatte. Sie kündigte einen Zug Richtung Süden an, Gleis zwei. Sofort war Toran hellwach. Eilig blickte er sich um und stellte fest, dass er den Bahnhof einmal durchqueren musste, um zu dem genannten Gleis zu gelangen. Mit einem Seufzer raffte er sich auf, schulterte den Rucksack, auf den er seinen Kopf zum Schlafen abgelegt hatte, griff nach den Gehstützen und machte sich so schnell er konnte auf den Weg.
Er erreichte den Zug gerade noch rechtzeitig und war überaus erleichtert, als er einen Platz in einem leeren Abteil fand, wo er sogar das mittlerweile unangenehm pochende Bein etwas hochlegen konnte. Nun würde seine Reise beginnen, einem Ziel entgegen, das ihm noch nicht bekannt war. Er würde den Zug einfach fahren lassen und irgendwann irgendwo aussteigen. Sein Gefühl, so glaubte er, würde ihm schon sagen, wann es soweit war.
Als der Zug mit einem Ruck anfuhr, überzog eine Gänsehaut Torans Arme. Fast euphorisch blickte er aus dem Fenster und sah, wie die Stadt, in der er jetzt zehn Jahre gelebt hatte, an ihm vorüberzog. Ob er sie je wiedersehen würde?
Bald wurden die Häuser von Wäldern und Wiesen abgelöst, aus denen sich langsam der Nebel erhob. Der Himmel verfärbte sich in den wunderschönsten Farben, von rosa und hellblau bis orange, und kündigte einen sonnigen Tag an. Genau das richtige Wetter für den Beginn einer Suche, dachte Toran. Er genoss den Anblick noch eine ganze Weile. Dann aber schläferten die vorbeirauschenden Bilder ihn langsam ein und er glitt in die Welt der Träume.
Wieder einmal sah er den Drachen fliegen und jagen. Wieder stand er neben ihm, als er das Reh riss, und wieder sah der Drache ihn an. Doch gerade, als er zu ihm sprechen wollte, wurde Torans Aufmerksamkeit von einer Krähe abgelenkt, die laut krächzend neben ihm landete. Sie trug einen goldenen, schlichten Ring im Schnabel und ließ ihn vor Torans Füße fallen. Neugierig hob Toran ihn auf und betrachtete ihn. Dabei fiel ihm auf, dass sich eine Inschrift auf der Innenseite befand. Angestrengt versuchte er, sie zu entziffern, aber die Schriftzeichen waren ihm nicht vertraut. Ratlos sah er die Krähe an, doch diese erhob sich einfach wieder in die Lüfte und verschwand. Der Drache aber hatte Toran beobachtet. Er schien zu wissen, was es mit dem Ring auf sich hatte und nickte Toran zu.
„Komm zu mir!“, sagte er nun zu ihm. Toran wollte daraufhin auf ihn zugehen, doch plötzlich befand sich eine Tür zwischen ihnen, sodass er nicht hindurch kam. Er hörte noch die Stimme des Drachen: „Du hältst den Schlüssel in der Hand, Toran. Du musst die Tür bloß noch damit öffnen.“
Toran blickte irritiert auf den Ring in seiner Hand. Meinte der Drache etwa diesen Ring? Gleichzeitig suchte Toran ein Schloss an der Tür, doch er konnte nichts daran entdecken, das auch nur eine Ähnlichkeit damit gehabt hätte.
„Wie soll ich die Tür damit öffnen?“, fragte er daher.
„Du kennst den Spruch, Toran. Erinnere dich!“
Und dann verstummte der Drache, das Bild verschwand und Toran erwachte.
Irritiert schaute er sich um und fand sich in seinem Zugabteil wieder. Der Tag draußen war mittlerweile angebrochen und ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass es inzwischen sieben Uhr morgens war. Ein lautes Knurren seines Magens machte ihn darauf aufmerksam, dass er frühstücken wollte, und Toran stellte erschrocken fest, dass er gar nicht daran gedacht hatte, sich etwas zu essen mitzunehmen. Wenigstens hatte er eine Flasche Wasser dabei, von der er jetzt trank. Aber das löschte lediglich seinen Durst und es graute ihm bei der Vorstellung, sich nun sein Gepäck schnappen zu müssen, um damit durch den schaukelnden Zug zu humpeln und das Bistroabteil zu suchen. Mit einem tiefen Atemzug raffte er sich dennoch auf, bückte sich, um seinen Rucksack aufzuheben und entdeckte dabei etwas Glänzendes, das unter dem Rucksack hervorlugte. Stutzig hielt er inne. Er ließ den Rucksack wieder los und griff stattdessen nach dem Gegenstand, der dort auf dem Boden lag. Er hob ihn auf und konnte es kaum fassen, was er da in den Fingern hielt.
Es war ein Ring. Doch es war nicht irgendeiner. Nein, er war aus echtem Gold, wie es schien, denn er wog schwer in seiner Hand. Er glich in seiner Schlichtheit einem Ehering und Toran hob ihn ins Licht, um die Inschrift zu lesen, die sich auf der Innenseite befand. Wahrscheinlich hatte jemand den Ring verloren und man konnte der Gravur entnehmen, wer das war. Doch als Toran die Schriftzüge zu lesen versuchte, war er so verblüfft, dass er sich kurz die Augen rieb, um sicher zu gehen, dass er richtig sah. Die Inschrift blieb allerdings, wie sie war, und Toran wusste nicht, was er davon halten sollte. Es war einfach unmöglich und doch vollkommen logisch.
Die Schrift war die gleiche, die er an dem Ring in seinem Traum gesehen hatte...
Hastig schloss Toran die Faust um den Ring, während das Herz in seiner Brust nervös zu flattern begann. Tränen der Freude traten ihm in die Augen und er hatte das Gefühl, tief Luft holen zu müssen. War es tatsächlich möglich, dass er den Ring gefunden hatte, der ihm die Tür in seine Heimat öffnen konnte? Und wenn ja, wie war er hier her zu ihm gekommen? Konnte es solch einen Zufall geben? Oder gab es jemanden, der ihn geschickt haben könnte?
Plötzlich war Torans Hunger vergessen. Vielmehr wartete er ungeduldig auf den nächsten Halt, bei dem er unbedingt auszusteigen gedachte. Wo würde er die Tür zu seiner Heimat finden, um sie endlich zu öffnen und zurückzukehren? Toran wusste es nicht, aber der geheimnisvolle Zufall mit dem Ring stimmte ihn zuversichtlich. Das Schicksal würde ihn führen, davon war er überzeugt.
Nur eine halbe Stunde später stand Toran an dem abgelegenen Bahnhof einer kleinen Stadt, inmitten einer hügeligen Landschaft. An einem alten Automaten zog er sich für ein paar Münzen einen Schokoriegel, um seinen quengelnden Magen vorübergehend zu besänftigen. Es war die gleiche Sorte, wie Heike ihm damals geschenkt hatte, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Die Erinnerung daran weckte in ihm unweigerlich ein schlechtes Gewissen, ebenso wie den verzweifelten Schmerz, der ihn damals in sein neues Leben begleitet hatte.
Plötzlich blitzte ein Bild vor seinem inneren Auge auf, das anders war, als alle bisherigen, zu denen seine Erinnerung Zugang fand. Es war das Gesicht eines Mannes. Toran fühlte, dass dieser Mann ihm sehr viel bedeutet hatte. Aber da war noch ein Gefühl. Angst. Schreckliche Angst. Sie überwältigte Toran auf einmal wie eine Welle, die ihn in die Tiefe zu ziehen drohte. Toran verschluckte sich an der Schokolade, auf der er gerade herumkaute, und fing an zu husten.
Erinnere dich... , hatte der Drache gesagt. Erinnere dich... Immer wieder hallten diese Worte in Torans Kopf, sodass ihm fast schwindelig davon wurde. Mit überwältigender Klarheit stürzten die Bilder weiter auf ihn ein, als entsprangen sie plötzlich einer lange verschollenen Schatulle, die nun endlich wieder geöffnet worden war.
Der Mann hielt einen Ring in seiner Hand. Toran erkannte ihn und plötzlich erfüllte sein Anblick ihn mit einem namenlosen Schrecken. In Zeitlupe sah Toran, wie der Mann den Ring auf den Boden legte. Dabei murmelte er irgendwelche Worte und Toran erkannte die Sprache. Es war die gleiche, die der Drache mit ihm gesprochen hatte. Toran hörte die Worte, sie fraßen sich wie Würmer in sein Gedächtnis. Erinnere dich...! Sie wurden lauter und lauter. Erinnere dich...!!! Und dann riss die Welt auf. Toran konnte es vor sich sehen, als würde es gerade geschehen, doch ihm blieb keine Zeit, es zu begreifen, denn ein Krachen ließ ihn plötzlich zusammenzucken. Er hörte dieses Krachen, sah das entsetzte Gesicht des Mannes, seines Vaters, der ihn auf einmal bei den Schultern packte und in das Loch stieß, das sich vor ihm geöffnet hatte. Toran wollte zurück blicken, da kam der Pfeil auf ihn zu. Die Tür schlug zu, der Pfeil traf und Toran verlor das Bewusstsein. Erinnere dich...
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