„Bitte, Heike, tu das nicht! Sie haben doch keine Schuld! Ich will nicht, dass du sie wegschmeißt! Sie gehören mir!“
„Geh jetzt zur Seite, Toran! Diese Drachen tun dir nicht gut und es ist das Beste, du befreist dich endlich von ihnen. Eine andere Lösung fällt mir nicht mehr ein. Ich habe bereits alles versucht...“ Damit schob sie sich an Toran vorbei, sodass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Er war noch damit beschäftigt, sich zu fangen und nicht zu stürzen, als Heike schon die Stufen der Wendeltreppe hinaufstieg.
„Nein, verdammt, ich will das nicht!“, schrie er ihr hinterher und versuchte, ihr zu folgen. Doch bereits an der ersten Stufe scheiterte er mit seinen verfluchten Gehstützen, die einfach nicht genügend Halt fanden, um ihm sicher zu erscheinen. Am liebsten hätte er sie quer durch den Raum geschleudert, so wütend war er in diesem Moment.
„Heike! Bitte!“, rief er noch einmal. Doch die einzige Antwort war das Rascheln der Tüte, wenn Heike den nächsten Drachen hineinwarf.
Toran konnte sich ärgern, er konnte schreien, weinen, flehen, aber all das nützte ihm nichts. Unerbittlich entsorgte Heike einen Drachen nach dem anderen, in dem Glauben, Toran damit etwas Gutes zu tun; nicht wissend, dass sie ihm damit das Letzte nahm, was ihm von seiner Welt, ja seiner Heimat geblieben war, die er so früh gezwungen gewesen war, zu verlassen.
Nachdem Toran eingesehen hatte, dass er Heikes Reinigung nichts entgegenzusetzen hatte, hinkte er resigniert zurück zu dem Sofa, ließ sich darauf nieder und wartete, bis Heike drei riesige Mülltüten voller Drachen und Fantasy-Büchern die Treppe hinunter, an ihm vorbei nach draußen schleppte. Schweigend beobachtete er sie dabei, während ihm das Herz blutete. Doch sein Gesicht blieb starr wie Stein.
Warte nur, bis ich wieder laufen kann , dachte er bloß und schmiedete heimlich Pläne.
Die Gipssäge heulte auf und näherte sich nach nun acht Wochen dem verhassten Symbol der Abhängigkeit. Zumindest empfand Toran es so. In diesen acht Wochen war in seiner Brust ein Knoten gewachsen, der ihm häufig das Atmen schwer machte und zu schmerzen begann, wenn er tiefer über alles nachdachte, was ihm in dieser Zeit widerfahren war.
Bereits einen Tag nach dem Gespräch mit Dr. Hansen hatte Heike ihre Drohung wahr gemacht und Toran in der Psychiatrie vorgestellt. Brühwarm hatte sie ihnen dort alles erzählt – über seinen Sprung ebenso wie von seiner Überzeugung, fliegen zu können. Der Geschmack nach Verrat lag Toran klebrig auf der Zunge und er wäre am liebsten im Erdboden versunken, als er ihre mitleidigen Blicke auf sich spürte. Für einen kurzen Moment wurde ihm sogar unterstellt, Drogen genommen zu haben.
Glücklicherweise waren sie dann aber nach einer Woche wenigstens davon überzeugt, dass keine Suizidgefahr vorlag. Auch die Drogentheorie war bald wieder vom Tisch. Geblieben war jedoch der starke Verdacht einer Schizophrenie, sodass Toran schließlich gezwungen wurde, Medikamente zu schlucken. Je eher er dazu bereit war, desto schneller konnte er wieder entlassen werden. Also hatte er sie geschluckt. Anfangs, für eine Woche, bis zur Entlassung. Doch sie machten ihn müde, träge und er fühlte sich, als stecke er in einem Anzug aus Watte. Er konnte nicht mehr denken und selbst seine Träume versiegten. Er kam sich vor, wie die leere Hülle seiner selbst. Zu Hause hatte er sich die Tabletten daher zwar noch unter Heikes Kontrolle in den Mund geschoben, sie dann aber solange unter der Zunge versteckt, bis er sie in einem unbeobachteten Moment wieder ausspucken konnte. Bereitwillig hatte Toran sich der ambulanten Therapie ergeben, die täglichen Stunden an sich vorüber ziehen lassen und dabei mühsam den Eindruck erweckt, den sie alle von ihm haben wollten.
In seinem Herzen jedoch sah es ganz anders aus. Dort glühte der Funke der Wut, heiß, rot, züngelnd, bereit, zu einem Feuer zu werden. Toran war wütend auf Heike, die seine körperliche Hilflosigkeit schamlos ausnutzte, um über ihn zu verfügen. Darüber hinaus konnte er es ihr nicht verzeihen, was sie mit seinen Drachen gemacht hatte, selbst wenn sie ihm irgendwann gestanden hatte, dass sie sie nicht in den Müll geworfen, sondern nur im Keller deponiert hatte. Ja, sie versprach ihm sogar, sie alle wieder an ihren Platz zu bringen, sobald Toran sich von seiner Krankheit – so nannte sie das jetzt – erholt haben würde.
Ferner war Toran wütend auf Frank, der Heike in ihrem Handeln auch noch voll und ganz unterstützte. Er war wütend auf den Psycho-Fritzen, der in seiner selbstgefälligen Art ernsthaft glaubte, besser über Toran Bescheid zu wissen, als er selbst. Und er war wütend auf sich selbst, weil er sich überhaupt erst in diese Lage gebracht hatte...
Jetzt aber war das vorbei. Als die Krankenschwester vorsichtig den zerschnittenen Gips auseinanderzog, schenkte sie damit nicht nur Torans Bein die Freiheit, sondern auch der ganzen Person, die an diesem Bein dranhing.
„Willst du den Gips behalten?“, fragte sie Toran, worauf dieser bloß energisch den Kopf schüttelte.
„Überlege es dir noch mal. Ich schmeiße ihn sonst jetzt weg.“
„Tun Sie das! Ich will ihn nie wieder sehen!“, entgegnete Toran und schaute auf sein dünn gewordenes Bein. Es sah so zerbrechlich aus und er hatte Angst, es zu bewegen. Würde der Knochen wirklich halten? Toran konnte sich gar nicht vorstellen, jetzt wieder auf diesem Bein zu laufen. Langsam begann er, seinen Fuß zu kreisen. Es tat weh, war aber gleichzeitig ein befreiendes Gefühl. Dann beugte er vorsichtig das Kniegelenk und schließlich schwang er seine Beine von der Liege, um aufzustehen. Er war ungeduldig, denn endlich war der Tag gekommen, der Tag der Verheißung, der Tag der wiederkehrenden Selbstbestimmung, der Tag, auf den sich all seine Pläne, Sehnsüchte und Hoffnungen der letzten Wochen konzentriert hatten. Doch als er sein Gewicht nun auf das Bein verlagerte, schoss ein plötzlicher Schmerz wie ein Stromschlag von seinem Fuß bis in den Oberschenkel und es knickte ihm weg. Toran konnte sich gerade noch an der Liege festhalten und ließ sich direkt wieder darauf nieder. Grimmig starrte er auf die Gehstützen, die die Schwester ihm lächelnd entgegenhielt.
„Die wirst du auch ohne Gips noch ein oder zwei Wochen brauchen.“
Toran sah die Schwester entgeistert an. Für sie schien das alles ja ganz lustig zu sein, so wie sie grinste. Dabei ahnte sie nicht annähernd, was ihre Aussage für ihn bedeutete. Ein oder zwei Wochen... Das ging nicht. Es war ausgeschlossen. Toran wollte keinen Tag länger warten. Er hatte nun schon zwei lange, lange Monate gewartet. Das Maß war einfach voll!
Zornig riss er der Schwester die Stützen aus den Händen und stand auf, um mit ihnen zu seiner Hose zu humpeln, die Heike zuvor über die Lehne eines Stuhls gelegt hatte. Umständlich zog er sich an und verließ den Raum.
Draußen saß Heike, die auf ihn gewartet hatte und ihn nun anlächelte.
„Willst du nicht noch deinen anderen Schuh anziehen?“ Sie hielt ihm den zweiten Schuh sowie eine Socke entgegen, die sie in weiser Voraussicht mitgenommen hatte. Wortlos ließ sich Toran neben ihr auf der Bank nieder und zog sich nun auch rechts Socke und Schuh an. Dann stand er wieder auf, bereit, endlich nach Hause zu kommen, wo er noch einiges vorbereiten wollte.
Auf der Heimfahrt war Heike redselig. Sie vermittelte den Eindruck, dass sie ganz zuversichtlich war, was Torans Gesundung anging. Auch sie schien erleichtert, dass der Gips endlich verschwunden war und das Leben nun wieder in normale Bahnen zurückkehren konnte. Zwar würde er das Schuljahr nun definitiv wiederholen müssen, jetzt, nachdem er so viel verpasst hatte, aber das täte ihm sicherlich ganz gut. Heike war wirklich guter Dinge. Sie hatte ja nicht die geringste Ahnung...
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