Du bist ich und ich bin du , hatte der Drache gesagt. Jetzt verstand Toran seine Worte. Alles schien plötzlich einen Sinn zu ergeben und hier nun wartete der Beweis.
Toran hätte Angst haben müssen. Doch er hatte keine. Er schloss die Augen, breitete seine Arme aus und ließ sich nach vorne fallen, wissend, dass ihm nichts passieren würde, überzeugt, er würde gleich fliegen.
Im ersten Moment hatte er tatsächlich das Gefühl, zu schweben. Die Bodenlosigkeit umfing ihn wie ein Rausch, der vorbeisausende Wind kühlte seine vor Aufregung erhitzten Wangen. Dann öffnete er die Augen und erschrak. Viel zu schnell raste der Boden auf ihn zu, keine Flügel wuchsen aus seinem Rücken, die ihn hätten auffangen können. Seine Arme ruderten hilflos in der Luft, ohne seinen Sturz noch aufhalten zu können. Und dann kam der Aufprall.
Ein berstender Schmerz durchzuckte Torans rechtes Bein, pflanzte sich fort in seinen Rücken bis hinauf zu seinem Schädel und raubte ihm die Sinne. Schwärze übergoss Torans Bewusstsein und ließ den Schmerz ins Leere gehen.
Allerdings kehrte er schon bald zurück und holte Toran aus seinem watteartigen Zustand, um ihn wieder in die Schlucht zu führen, wo er immer noch auf dem Boden lag, als er die Augen aufschlug. Das erste, was Toran sah, war der wunderschöne, blaue Himmel mit einer strahlenden Sonne, die ihn wärmte. Das nächste, was er fühlte, war ein grausames Pochen in seinem rechten Bein, als müsse es gleich zerspringen. Toran hätte sich gerne aufgerichtet, um danach zu sehen, doch er war nicht in der Lage, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Selbst das Anheben seines Kopfes führte schon dazu, dass er glaubte, jemand würde gerade eine Machete auf sein Bein niedersausen lassen, um es in Stücke zu hauen.
Tränen schossen ihm in die Augen und er schrie auf, vor Schmerz, aber auch vor Wut auf sich selbst. Wie hatte er nur so dumm sein können, zu glauben, er könne fliegen? Was hatte da von ihm Besitz ergriffen? Er konnte sein Handeln nun selbst nicht mehr nachvollziehen... Jetzt lag er hier und konnte sich nicht mehr rühren. Allein nach Hilfe zu rufen, blieb ihm noch. Doch wer kam hier schon vorbei?
So wurde es Abend und Toran betete um die Sorge seiner Adoptiveltern, die ihn hoffentlich suchen würden. Plötzlich tat es ihm leid, mit ihnen gestritten zu haben, ja überhaupt wütend auf sie gewesen zu sein, waren sie doch einfach nur bekümmert, weil sie ihn liebten. Unterbrochen von Tränen, gequält von hämmernden Schmerzen, machte er sich Vorwürfe, haderte mit seiner Existenz, die es seinen Freunden und seinen Eltern so schwer machte, mit ihm zu leben. Warum konnte er nicht einfach so sein, wie alle anderen auch... Dies war eine Frage, das spürte er, die ihn schon länger begleitete, als er sich erinnern konnte. Und eine Antwort darauf war der Pfeil gewesen, der ihn damals in sein jetziges Leben begleitet hatte.
Toran lag da, seinen durch Tränen verschwommenen Blick auf den Himmel gerichtet, der sich langsam verdunkelte. Die ersten Sterne leuchteten auf und die Luft wurde merklich kühler. Zu Schmerzen und Selbstvorwürfen gesellte sich mit fortschreitender Uhrzeit auch noch die Verzweiflung. Immer wieder versuchte Toran, nach Hilfe zu rufen, doch selbst das tiefe Luftholen bereitete ihm Qualen in seinem Bein, sodass seine Rufe nicht sehr laut waren. Als die Angst ihn schließlich zu überwältigen drohte, begann er leise und mit zittriger Stimme zu singen, weil er mal gehört hatte, dass man keine Furcht empfinden kann, solange man singt. Naja, die Theorie traf auf Toran jedenfalls nicht zu, also gab er es wieder auf.
Irgendwann beschloss er, sich wider aller Schmerzen dennoch aufzuraffen, um irgendwie nach Hause zu kriechen, aber er schaffte es gerade eben, den Oberkörper etwas zur Seite zu neigen und um ein paar Zentimeter anzuheben, da schrie er schon auf und ließ sich zurück auf den Boden sinken.
Es verging so noch eine Stunde, als Toran plötzlich Gebell hörte. Voller Hoffnung lauschte er und rief sofort wieder nach Hilfe, diesmal sogar lauter, weil er den Schmerz für einen kurzen Moment der Euphorie in den Hintergrund zu drängen vermochte. Und tatsächlich, ein Hund näherte sich. Toran hörte ihn schon lange, bevor er ihn in der Dunkelheit überhaupt sehen konnte. Sobald der Hund ihn erreicht hatte, wedelte er aufgeregt mit dem Schwanz und brach in alarmierendes Gebell aus. Bald darauf tanzten die Lichter von Taschenlampen wie übergroße Glühwürmchen heran, begleitet von Männerstimmen.
Unendlich erleichtert schloss Toran die Augen und wartete, bis die Männer bei ihm angekommen waren.
„Alles in Ordnung, Junge?“, fragte ihn einer der Männer. Toran schlug die Augen wieder auf und schüttelte den Kopf.
„Ich glaube, mein Bein ist gebrochen.“
Der Mann – der Uniform nach Polizist - richtete den Kegel seiner Taschenlampe auf Torans Beine und sog scharf die Luft ein, wobei er mit seinem Kollegen, der mittlerweile neben ihm stand, einen ernsten Blick austauschte.
„Hast du denn noch Gefühl in den Beinen?“, fragte er daraufhin und Toran nickte.
„Allerdings! Wenn es jetzt gerade jedoch etwas weniger wäre, hätte ich nichts dagegen...“ Toran versuchte, zu lächeln, aber es musste wohl eher gequält wirken, denn der Blick der Polizisten drückte lediglich Mitleid aus. Dann zückte der eine sein Funkgerät, entfernte sich ein Stück und verlangte nach einem Rettungsteam.
Torans Bergung war äußerst umständlich gewesen, da es zu dem Unfallort keinen Weg gab, den der Rettungswagen hätte befahren können. Toran hatte allerdings von alledem nicht viel mitbekommen. Der erste Sanitäter, der bei ihm eingetroffen war, hatte ihm direkt ein äußerst wirkungsvolles Mittel gegen die Schmerzen verabreicht, sodass Toran eingeschlafen war.
Als er wieder erwachte, befand er sich im Krankenhaus. Er lag auf einem Bett in dem Halbdunkel einer Nachtlampe. Die Schmerzen waren zwar noch da, aber deutlich milder. Um sein rechtes Bein spürte er etwas Warmes, Festes, und als er an sich herab blickte, konnte er erkennen, dass es hochgelagert war und von oben bis unten in einem Gips steckte.
„Na, wie geht es dir?“, hörte Toran plötzlich Heikes Stimme neben sich. Kurz darauf sah er ihr Gesicht, das sich von der Seite über ihn beugte. Sie hatte wohl neben ihm gesessen und war aufgestanden, nachdem sie gemerkt hatte, dass er erwacht war.
Toran verzog die Mundwinkel.
„Zumindest schon besser, als noch vorhin...“
„Wie ist das denn passiert?“ Heikes Blick drückte vorrangig Sorge aus. Aber eine gewisse Skepsis war gleichfalls nicht zu übersehen.
„Ich weiß es nicht genau. Ich muss irgendwie abgerutscht sein, glaube ich...“
„Aha...“
Mit seiner Ausrede würde Toran nicht weit kommen, das erkannte er allein an Heikes Tonlage. Aber vielleicht blieb ihm noch etwas Zeit, sich eine glaubhaftere Erklärung auszudenken. Vielleicht ein Tier, das er hatte vor dem Absturz retten wollen, wobei er selbst hinunter gestürzt ist. Oder aber...
Toran kam nicht weiter mit seinen Überlegungen. Unvermittelt riss Heike ihn mit ihrer Frage heraus.
„Toran, bitte sage mir jetzt ganz ehrlich: wolltest du Selbstmord begehen?“
Toran blieb der Mund offen stehen.
„Nein! ... Nein, ich wollte keinen Selbstmord begehen! Was soll denn die Frage?“
Heike betrachtete ihn lange schweigend. Dann tat sie einen tiefen Atemzug.
„Du weißt, Toran, dass du überraschend glimpflich davon gekommen bist, oder? Die Ärzte sprechen von einem Wunder, dass nicht viel mehr und viel Schlimmeres passiert ist. Mensch Toran, du hättest tot sein oder für immer im Rollstuhl landen können! Warum in Gottes Namen bist du denn da runter gesprungen?“
Toran wand sich innerlich.
Читать дальше