1 ...8 9 10 12 13 14 ...23 „Toran, stelle dich einfach mal bei ihm vor. Es geht doch nicht allein darum, ob du verrückt bist. Aber du hast nun mal früher ein Trauma erlebt. Ich denke, es ist jetzt einfach an der Zeit, es aufzuarbeiten... Wenn der Psychiater zuletzt auch davon überzeugt ist, dass alles mit dir in Ordnung ist, dann ist es ja gut. Dann überlegen wir eben auf anderen Wegen, wie du den Bogen wieder kriegst. Aber irgendetwas muss jetzt einfach geschehen, da stimmst du mir doch sicher zu, oder?“
Ja, er stimmte Heike zu, dachte er grimmig. Allerdings hatte er dabei einen anderen Weg vor Augen. Doch er würde den Teufel tun, es ihr zu verraten. Also nickte er stumm, während er dabei stur auf sein Brötchen schaute. Der Appetit war ihm zwar vergangen und Heikes sowie Franks Blicke machten diesen Zustand nicht besser. Dennoch packte er es entschlossen, belegte es mit einer Scheibe Wurst und biss wütend hinein. Dabei funkelte er seine Adoptiveltern böse an, die seinen Blick bloß gelassen entgegen nahmen, sich in Sicherheit wiegend, den Sieg davon getragen zu haben.
Als Toran nach dem Frühstück zurück in sein Zimmer kehrte, fühlte er sich wie ein gefangener Wolf. Unruhig ging er auf und ab, getrieben von Zeitnot, ohne erklären zu können, worin diese eigentlich genau bestand. Schließlich setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch, holte sein Tagebuch hervor und versuchte, wieder an jenem Punkt anzuknüpfen, an dem er sich gerade befunden hatte, als er von Heike unterbrochen worden war. Er las seine geschriebenen Zeilen und war abermals verblüfft, dass er sie tatsächlich verstand. Er schloss kurz die Augen, um die Worte noch einmal auszusprechen und ihrem Klang zu lauschen, hoffend, jene Bilder damit wieder heraufbeschwören zu können. Jene Bilder, von denen er sich versprach, dass sie auch der Schlüssel zu dem seltsamen Gefühl in ihm waren.
Doch es gelang ihm nicht. Hinter seinen Lidern blieb es schwarz. Frustriert öffnete er sie wieder, klappte schließlich das Buch zu, verstaute es in seinem Versteck und stand auf. Er trat ans Fenster, schaute hinaus und war ratlos, wie er diese Unruhe loswerden sollte, die sich wie eine aufgescheuchte Schlange durch seinen Brustkorb wand.
Zuletzt beschloss er, joggen zu gehen. Er brauchte jetzt einfach frische Luft und den freien Himmel über sich. Noch länger hier zu bleiben, erschien ihm auf einmal schier erdrückend.
Rasch hatte er sich seine Sportsachen angezogen und war auf dem kürzesten Weg aus der Wohnung geflohen. Im Vorbeigehen hatte er Heike und Frank noch in die Küche gerufen, dass er laufen geht, und weg war er.
In der Nähe der Wohnung lag ein Wald, der an einen Steinbruch angrenzte. Hier lief Toran am liebsten, so auch diesmal. Das erste Stück hatte ihn in den Wald hineingeführt. Allerdings war Toran nicht gelaufen, wie sonst, sondern gerannt. Es war ihm einfach ein Bedürfnis gewesen. Er war gerannt, bis ihm die Muskeln in den Beinen brannten. Erst dann fiel er in einen leichten Trab, der sich bald zu einem Gehen verlangsamte.
Schließlich war Toran bei der Wiese angelangt, die er so sehr liebte, weil er hier stets ungestört war. Fast nie verirrte sich ein Mensch hier her, da es keinen befestigten Weg gab. Toran musste quer durch das Unterholz laufen und dabei das ein oder andere Hindernis überspringen, um zu ihr zu gelangen.
Die letzten Tage waren frühlingshaft warm und sonnig gewesen, sodass die Wiese trocken war. Daher suchte sich Toran ein halbschattiges Fleckchen und legte sich dort rücklings auf den Boden. Den strahlend blauen Himmel über sich, verschränkte er die Arme hinter dem Kopf, schloss die Augen und genoss einfach die Ruhe und den sanften Wind, der durch sein verschwitztes Haar strich. Die Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach brachen und über sein Gesicht tanzten, malten zuckende, rote Flecken auf das Dunkel seiner geschlossenen Lider und erinnerten Toran an die Flammen eines Feuers.
Er musste darüber eingenickt sein, denn als er neben sich ein leises Knacken hörte, vermischte sich dieses noch für einen kurzen, erwachenden Moment mit dem Bild des Drachen, der gerade ansetzen wollte, mit ihm zu sprechen. Etwas verwirrt öffnete Toran die Augen und drehte den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Was er dort sah, ließ ihn jedoch sofort innehalten.
Es war ein Reh, das ihn nicht bemerkt zu haben schien. Es stakste durch das Unterholz und wollte gerade die Wiese betreten, da hielt es an und schaute sich um, während sich seine Ohren lauschend hin und her drehten. Augenblicklich fühlte Toran sich an seinen Traum erinnert. Allerdings empfand er sich nicht als Zuschauer, der er im Traum sonst stets war. Nein, es war seltsam, aber jetzt war es plötzlich anders: er spürte ihn, den Instinkt des Drachen, tief in seiner Brust, dort, wo sein Herz auf einmal schneller schlug, begierig, auf die Jagd zu gehen.
Ganz von diesem Instinkt geleitet, bewegte sich Toran nun bloß ganz langsam und vorsichtig, immer dann, wenn das Reh nicht in seine Richtung schaute. So schaffte er es tatsächlich, von dem Tier unbemerkt auf die Beine zu kommen. Dann allerdings streifte der Blick des Rehs Torans nun aufgerichtete Gestalt. Es zuckte zusammen und preschte los. Ohne zu zögern, rannte Toran hinterher. Eine bisher nie gekannte Kraft schien ihn dabei auf einmal zu durchfluten und er war selbst beeindruckt, wie schnell und leicht er dem Reh zu folgen vermochte, ohne aus der Puste zu geraten, wie noch vorhin. Fast nur nebenbei nahm er den seltsam schneidenden Schmerz auf seinem Rücken wahr, ebenso wie den auf seiner Stirn. Es kümmerte ihn nicht, zu sehr war er darauf erpicht, das Reh zu fassen zu bekommen. Begleitet von einem Ziehen in den Wangen, spürte er, wie sich Speichel in seinem Mund sammelte.
Toran war schnell, ungewöhnlich schnell sogar, doch sein menschlicher Körper bremste seine Möglichkeiten, sodass das Reh dennoch schneller war. Es entwischte ihm nach einer kurzen Jagd und tauchte schließlich im Dickicht unter, in das Toran ihm nicht mehr folgen konnte. Voll Bedauern blieb er vor dem Gebüsch stehen. Seine Brust hob und senkte sich unter seinen kräftigen Atemzügen, die sich nach und nach beruhigten. Schweiß lief ihm über die Stirn und drohte, ihm in die Augen zu laufen, sodass er ihn mit dem Handrücken fortwischte. Doch als Toran die Hand wieder herunter nahm, war sie voller Blut.
Erschrocken betrachtete er auch die andere Hand, die jedoch noch sauber war. Dann erst registrierte er den Schmerz, der von der Narbe auf seiner Stirn auszugehen schien. Gezielt langte er nach ihr und fand seinen Verdacht bestätigt: sie blutete.
Verwundert starrte Toran auf das Blut an seinem Finger. Dann kamen ihm plötzlich die Narben auf dem Rücken in den Sinn. Auch dort fühlte er Schmerzen. Kurzerhand zog er sein T-Shirt aus, um es sich anzusehen. Und auch hier zeigte sich Blut.
Was hatte das zu bedeuten? Toran war ratlos.
Da stand er nun, am Rande des Waldes, vor sich eine Wiese, die nach wenigen Metern abrupt endete, dort, wo der Steinbruch eine steile Felswand hinterlassen hatte. Eigentlich wollte er umkehren, um sich auf den Heimweg zu begeben und zu Hause die blutenden Wunden zu verpflastern. Da jedoch huschte sein Blick noch einmal zu dem Felshang hinüber und eine nicht zu bestimmende Begierde erfasste ihn. Aller Vernunft zum Trotz, entschied sich Toran gegen den Heimweg und ging stattdessen auf die Schlucht zu. Erst dicht am Rand blieb er stehen und sah hinunter. Für einen Moment wurde ihm schwindelig, doch er blieb, wo er war. Wie hoch mochte die Schlucht sein? Zehn Meter? Fünfzehn Meter?
Für einen Drachen wäre es ein Klacks. Er würde die Flügel ausbreiten und fliegen... Und das war der fatale Gedanke, der auf einmal von Toran Besitz ergriff, mit einer Intensität, die sämtlichem rationalen Verstand widersprach.
Wieder begann Torans Herz aufgeregt zu schlagen, nein, eher ungeduldig. Sein Atem ging schnell. Plötzlich konnte er sie spüren, die Flügel, die in seinem Rücken nur darauf warteten, sich endlich zu entfalten, brennend, schneidend, blutend.
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