Fassungslos stand Toran da, den Schokoriegel in der einen Hand, den Ring in der anderen. Tränen strömten ihm über das Gesicht und er war unfähig den Bissen herunterzuschlucken, der ihm noch im Mund steckte. Er hatte die Tür gefunden. Sie war hier bei ihm, überall dort, wo er den Ring zu Boden legen würde. Den Schlüssel hielt er in der Hand und die Worte hatte er im Kopf. Sein Vater hatte sie einst gesprochen und er hatte sie sich gemerkt. Tief vergraben hatten sie seit jeher in seinem Gedächtnis geschlummert und jetzt waren sie wieder da. So nah war er plötzlich seinem lang vermissten zu Hause, dass er es nicht wagte, die Tür nun zu öffnen.
Mit einem kräftigen Schlucken zwang er die Schokolade hinunter, warf den restlichen Schokoriegel fort, packte den Rucksack und die Gehstützen und verließ den Bahnhof, um sich ein ungestörtes Fleckchen zu suchen. Solch eines fand sich schon gleich hinter dem Parkplatz, in Form eines kleinen, angrenzenden Waldstücks. Toran kletterte umständlich über die Leitplanke, die das Waldstück von dem Parkplatz trennte, und humpelte quer Feld ein, bis er soweit gegangen war, dass man ihn nicht so leicht entdecken konnte. Das sollte genügen.
Er stellte den Rucksack auf den Boden, legte die Stützen daneben und richtete sich auf. Mit einem tiefen Atemzug öffnete er seine Faust und betrachtete den Ring, der kalt und schwer darin lag.
Dann bückte er sich, um ihn auf den Boden vor sich zu legen. Er wusste, dass er nun bloß noch die Worte zu sprechen brauchte und doch brachte er sie nicht über die Lippen. Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass es wohl einen Grund gehabt haben musste, weshalb er hier her gebracht worden war. Wäre es wirklich klug, dorthin zurückzukehren, wo jemand mit einem Pfeil auf ihn geschossen hatte? Was wusste Toran schon von seiner vermeintlichen Heimat? Nichts mehr. Was war das für eine Welt, in die er nun beabsichtigte, zu gehen?
Und doch waren da die Worte des Drachen, der ihn immerzu rief. Zu ihm fühlte er sich hingezogen, als sei er ein Teil von ihm, den man ihm entrissen hatte. Nur an seiner Seite wäre er vollständig, das wusste Toran. Und er begann, sie zu formen, die Worte, die so lange schon zurücklagen und nun zurückgekehrt waren, um ihn endlich heim zu bringen. Wort für Wort sprach er sie aus, anfangs mit zitternder Stimme, dann aber immer entschlossener, ohne den Ring dabei aus den Augen zu lassen. Da bemerkte er auf einmal ein sanftes Leuchten in seinem Zentrum, das stetig an Helligkeit zunahm bis es ihn schließlich blendete. Unbeirrt sprach Toran jedoch weiter, wie ein Gebet ließ er die Beschwörung auf den Ring niedergehen, bis plötzlich ein Strahl gleißenden Lichts in die Höhe schoss und sich unmittelbar darauf teilte, als würde ein Vorhang zur Seite gezogen.
Es war vollbracht. Toran schwieg. Benommen starrte er in das Licht, in dem er nur schemenhaft die Konturen einer Landschaft erkennen konnte. Ohne es aus den Augen zu lassen, bückte er sich, hob seine Sachen auf und humpelte hinein.
Es war wie eine Offenbarung, als das blendende Licht nachließ und Toran sich auf dem Gipfel eines grün bewachsenen Hügels wiederfand. Unter ihm erstreckte sich in sanften Wellen eine unberührte Landschaft. Wiesen und Wälder soweit das Auge reichte, gleich in welche Richtung Toran sich drehte. Darüber wölbte sich ein glasklarer Himmel und die Luft, die Torans Lungen bei seinem ersten, erstaunten Atemzug füllten, war so rein, dass er überrascht war, wie soetwas möglich war. Das Gefühl unendlichen Glücks überschwemmte ihn plötzlich, sodass er nicht anders konnte, als einen lauten Jubelschrei auszustoßen. Er wäre auch gerne in die Luft gesprungen und hätte sich überschwänglich im Kreise gedreht, wenn sein Bein es zugelassen hätte. So aber blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Rucksack und die Krücken fallen zu lassen und sich neben sie auf die Wiese zu setzen, um dieses unbeschreiblich schöne Bild in sich aufzusaugen, wie ein Verdurstender das rettende Wasser.
Dabei vergaß er völlig, auf die Tür hinter sich zu achten, die ihn überhaupt hier her geführt hatte. So merkte er nicht, wie eine Krähe vor ihr landete, den Ring in den Schnabel nahm und damit davon flog. Wie ein Nebel zerstob das Tor, löste sich lautlos in Nichts auf und raubte Toran damit unwiederbringlich die Möglichkeit einer Rückkehr.
Nicht, dass es ihn in diesem seligen Moment gekümmert hätte. Aber es sollten noch andere Zeiten kommen.
Toran genoss die Aussicht. Der Duft des in der Sonne leuchtenden Grases umschmeichelte seine Nase und das sanfte Zirpen der Grillen erfüllte ihn mit einem tiefen Frieden. Schließlich ließ er sich rücklings auf die Wiese sinken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blickte in den Himmel. Der Schatten des Mondes zeichnete sich blass in dem kräftigen Blau ab und als Toran genauer hinsah, entdeckte er sogar noch einen zweiten Mond. Unglaublich! Überrascht suchte er den Himmel ab, in der Hoffnung, vielleicht noch einen dritten zu finden. Doch es blieb bei den beiden.
Irgendwann jedoch waren die Sinne gesättigt und der Hunger meldete sich zurück. Der Schokoriegel war vergessen und Torans Magen forderte jetzt nach etwas Gehaltvollerem. Nachdenklich setzte Toran sich auf und schaute sich um. Wo sollte er jetzt hier etwas zu essen herbekommen? Für einen kurzen Moment dachte er darüber nach, noch einmal zurückzugehen und sich an dem Bahnhof noch einen Snack zu ziehen. Er drehte sich um und erschrak.
Die Tür war fort. So schnell er konnte, rappelte er sich auf die Beine und ging zu dem Fleck, wo sie vorhin noch gewesen war. Dort musste doch der Ring noch liegen... Aber so sehr Toran auch nach ihm suchte, er konnte ihn nicht finden. Er fluchte. Wahrscheinlich befand der Ring sich noch auf der anderen Seite, in der anderen Welt, unerreichbar für ihn. Noch einmal fluchte er, diesmal lauter. Am liebsten hätte er sich selbst geohrfeigt. Auch wenn er den Ring vielleicht niemals mehr brauchen würde, so wäre es doch beruhigend gewesen, ihn zu haben. Allein schon für Situationen wie diese, in denen er inmitten einer menschenleeren Gegend auf einem Hügel stand, mit einem Bärenhunger und einem lahmen Bein... Ein Einheimischer mochte vielleicht wissen, wie er sich in dieser Welt Nahrung beschaffen konnte, aber Toran war hier so gut aufgehoben, wie ein Blinder in einem Spiegelkabinett. Tiere jagen konnte er von vornherein vergessen und über die Pflanzen, die ihn umgaben, wusste er nichts; weder was essbar, noch was giftig war. Er wusste nicht, was schmeckte und was nicht. Er hatte einfach nicht die geringste Ahnung.
Weil ihm nichts besseres einfiel, setzte er sich den Rucksack auf den Rücken, nahm die Krücken, die er am liebsten einfach liegen gelassen hätte, und wählte willkürlich eine Richtung, in die er gehen wollte. Er hoffte einfach darauf, irgendwo auf eine Menschenseele zu treffen, die ihm etwas zu essen geben konnte. Und so humpelte er los.
Natürlich kam er nur extrem langsam voran. Gerade Hügel abwärts, auf unebenem Boden, war es doch noch sehr anstrengend für ihn, sich stetig darauf zu konzentrieren, sein Bein richtig aufzusetzen. Aber seinen Muskeln würde es gut tun, dachte er sich. Sobald sie kräftiger geworden waren, würde es immer besser gehen. Nichts desto trotz hätte er mit seiner Flucht wohl wirklich noch ein oder zwei Wochen warten sollen... Aber jetzt war es zu spät.
Es vergingen Stunden, die Toran sich durch die Wildnis kämpfte, während der Hunger in Wellen seine Eingeweide durchwühlte. Er bereute mittlerweile inständig, den restlichen Schokoriegel vorhin so gedankenlos fortgeworfen zu haben, anstatt ihn einfach mitzunehmen. Aber es half alles nichts. Er musste weitergehen und auf sein Glück hoffen. Wenigstens hatte er auf seinem Weg einen Bach gekreuzt, von dem er hatte trinken und seine mittlerweile leere Flasche wieder auffüllen können.
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