„Trotzdem hat er es nicht geschafft“, sagte Carola mit Absicht und der Gesichtsausdruck der Kellnerin versteinerte sich. Sie beugte sich zu Carola hinab und raunte ihr zu: „Sehen Sie den Mann dort oben in dem Café hinter dem Brunnen, neben ihm sitzt ein attraktiver Kerl mit einem Bärtchen?“
Carola stutzte. Dann warfen die beiden Frauen einander einen Blick zu, der jedes weitere Wort überflüssig machte. Carola blickte zu Reto hinüber, um sich nicht verdächtig zu machen. „Ja, ich sehe sie. Was ist mit diesem Mann?“
„Der hatte einmal ein hübsches Bankkonto, jetzt lebt er auf der Straße. Er war sehr gut mit dem Karl befreundet und man erzählt sich, dass er am Tod von Karl nicht ganz unschuldig war“, sagte sie mit einem bedeutsamen Augenaufschlag. Carola spitzte die Ohren und die Kellnerin strich sich eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht. Carolas Blick forderte sie auf, weiterzuerzählen. „Es ging um eine Frau. Dieser Frank dort, war wohl scharf auf sie. Aber sie hatte wohl etwas für den Karl übrig.“ Sie hob wieder bedeutsam die Augenbrauen und verharrte in der Hocke neben Carola.
„Ist diese Frau auch eine Obdachlose?“, fragte Carola interessiert. Die Kellnerin schüttelte den Kopf. „Nein, sie hat einen kleinen Laden in einer der Nebenstraßen dort“, sagte sie und deutete in die Richtung der bekannten Ladenstraße, die vom Platz aus nach links führte. Mit einem Augenaufschlag entschuldigte sie sich bei Carola, denn ein Kunde hatte schon zum dritten Man den Wunsch geäußert zu zahlen, zuletzt schon sehr mürrisch.
So erreichte dieses Gerücht genau die passende Adressatin.
*
Während Frank mit der linken Hand das Muster der Tischdecke nachfuhr, Reto wurde dabei bewusst, dass Carola wohl schon die Anzahl der rot-weißen Karos berechnet hätte, hielt er mit der anderen Hand das Cognacglas umklammert.
„Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich den Tod meines Freunds bedaure“, stieß Turowski hervor. „Vor allem die Umstände. Schrecklich.“
Die Finger umfassten das Glas erneut und Reto hatte Angst, dass er zu viel Druck ausübte, es zerdrücken würde.
Schrecklich. Er ließ das Wort in seinem Inneren nachhallen. Sicher, so zu Tode zu kommen, war mehr als schrecklich.
„Wo waren Sie denn zu der Zeit?“, wollte Reto wissen. Das erste Mal tauchte im Blick seines Gegenübers dieser Argwohn auf. Schnell wandte er den Blick ab und fuhr mit dem Finger wieder über die Karos der Tischdecke.
„Der Karl und ich, wir hatten zu der Zeit etwas Probleme. Ich war nicht in Sóller, daher konnte ich nicht auf ihn achtgeben“, erzählte er mit einem nachdenklichen Ton.
„Probleme? Welcher Art?“
„Weswegen haben Männer Schwierigkeiten miteinander? Ich kenne da nur eine Handvoll Gründe.“
„Eine Frau?“, riet Reto.
„Bingo. Eine Frau.“
„Aha.“
„Was heißt ‚aha‘? Denken Sie, dass Männer wie Karl und ich keine Frauengeschichten haben? Weil wir auf der Straße leben?“
Reto verzog den Mund. „So meine ich das nicht“, sagte er und musste sich eingestehen, dass er es doch so gemeint hatte, „Ist die Dame auch eine Obdachlose?“
„Nein, sie ist eine Sesshafte.“
Reto bemerkte, wie schmallippig und einsilbig Turowski plötzlich wurde. Das Frauen-Thema schien ihm keine Freude zu bereiten.
„Eine ortsansässige Sesshafte?“
„Ja“, antwortete er und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Die Gesprächsführung entglitt ihm. Da ist sein wunder Punkt, dachte er. Sein Gespür verriet ihm, dass er jetzt vorsichtig sein musste, sonst würde Turowski ganz zu machen und er würde seinen besten Kontakt zur Obdachlosen-Szene verlieren. Das konnte und wollte er nicht riskieren.
„Lassen wir das Thema“, sagte er diplomatisch, „Frauen sind ein zu ernstes Thema, um es an einem Ort wie diesem zu erörtern.“
„Frauen sind allezeit ein Thema“, entgegnete Turowski, immer noch mit einer gewissen Härte in seiner Stimme.
„Ich meine, wir könnten uns heute Abend oder morgen früh treffen. Auf ein Bier oder einen Kaffee und ein Frühstück. Was Ihnen lieber ist“, sagte Reto und sah auf seine Armbanduhr. Dann zog er erschrocken die Augenbrauen hoch, zog die Luft durch die Zähne. „Mensch, ist das schon spät!“, sagte er hektisch und machte eine fahrige Handbewegung, um die Kellnerin herbeizurufen. Ob Turowski ihm die plötzliche Hektik abkaufen würde?
„Ich habe einen Termin um halb eins“, sagte er und kramte hektisch nach seinem Portemonnaie. „Es ist doch erst halb zwölf“, sagte Turowski.
„Ja, aber ich muss noch nach Palma, dort einen Parkplatz finden, Sie kennen ja sicher die Parkplatzsituation dort.“
„Ja, die kenne ich noch. Sehr gut sogar“, pflichtete ihm Turowski bei und zog die rechte Augenbraue hoch. Er kauft dir den Bluff ab, dachte Reto.
„Also, was ist jetzt? Bier oder Frühstück?“, fragte er und reichte der Kellnerin einen passenden Schein hin, „Stimmt so.“ Die junge Frau bedankte sich überschwänglich für das üppige Trinkgeld. Dennoch würdigte sie den Obdachlosen weiterhin keines Blickes. Reto stand auf und trat neben den Mann, der ihn jetzt wieder unvoreingenommen ansah.
„Vielen Dank für das Frühstück, das können wir gerne morgen wiederholen. Selbe Zeit?“
„Selbe Zeit“, bestätigte Reto und hielt ihm die Hand hin.
*
Deià
Sie standen auf der Terrasse des Hotels, von der aus man einen wunderbaren Blick auf die Stadt Deià und das Tramuntana-Gebirge hatte. Viele nannten diesen kleinen Garten mit den gepflegten Rosenstöcken und den kleinen Tischchen romantisch und verträumt. Es gab sicher viele andere Adjektive und diese trafen sicher ebenfalls alle zu. Jana Hardenberg stand im Moment nicht der Sinn nach Romantik. Ganz im Gegenteil, sie wünschte sich weg von diesem Ort, egal wohin. Vor ihr, an das Geländer gelehnt, stand Pierre und betrachtete sie auf seine spezielle Art. Ein wenig unterwürfig, aber gleichzeitig auch frech und herausfordernd. Jetzt mischte sich auch noch Traurigkeit mit hinein, doch das konnte Jana heute nicht beeindrucken. Sie konnte gar nicht zählen, wie oft er sie mit seinem Dackelblick und seiner Gitarre schon rumgekriegt hatte. Meistens hasste sie sich für ihre Schwäche, nicht für seine Versuche. Pierre spielte in einer Band, war dort der Leadsänger und galt in ihrem Ort als Mädchenschwarm. Nun war Jana mit ihren fünfundzwanzig Jahren kein Mädchen mehr, trotzdem hatte sie im Ort genügend Neiderinnen gehabt. Pierre hätte viele Frauen haben können, er hatte sich für Jana entschieden.
„Du kannst nicht alles so wegwerfen, was wir haben, Jana.“
Jana Hardenberg fuhr ihn zum zweiten Mal heftig an, die Leute, die noch an ihrem Frühstückstisch saßen, warfen dem deutschen Paar schon missbilligende Blicke zu.
„Ich werfe nichts weg, ich beende nur unsere Beziehung. Hör bitte auf, dein Leben nach deinen Liedtexten zu leben. Das reale Leben hat nichts mit deinen Schmusesongs zu tun.“
Ihre blauen Augen blitzten gefährlich.
„Ich lebe mein Leben mit dir und ich möchte es noch eine lange Zeit weiterleben. Mit dir“, sagte er und machte eine zaghafte Bewegung in Richtung von Janas Schulter, die sie aber energisch abwehrte.
„Lass das!“
Augenfunkeln.
„Wieso kannst du plötzlich so abweisend sein? Wohin ist denn mein liebevolles zärtliches Mädchen verschwunden?“ Er strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und breitete theatralisch die Arme aus. So stand er auch oft auf der Bühne, wenn er einen seiner deutschen Texte sang. Früher hatte seine Band englische Texte gesungen, doch seitdem es ‚in‘ war, Deutsch zu singen, komponierte Pierre ausschließlich in seiner Muttersprache. Der Erfolg gab ihm recht. Erst vor kurzem hatte die Band einen lukrativen Plattenvertrag unterzeichnet.
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