Marie lag lang ausgestreckt an ihrer Lieblingsstelle in der Tür zum Garten, die Vorderbeine auf dem Fliesen der Terrasse, der Hundekörper lag im kühlen Haus. So hatte sie alles im Blick oder in der Nase. Je nachdem, welchen Sinn man gerade ansprach.
Reto stand auf und nahm das Weinglas in die Hand. „Ich setze mich noch ein wenig nach draußen, kommst du auch mit hoch“, forderte er Carola auf, die in eine forensische Fachzeitschrift vertieft war. Sie leistete sich noch immer den Luxus auf dem Laufenden zu bleiben. Forensik. Schließlich war es bis vor nicht allzu langer Zeit ihr Leben gewesen. Bis zu dem Herzinfarkt. Bis zu der heftigen Attacke ihrer Zwangsstörung, als sie in einem Bonner Hotelzimmer zusammengebrochen war.
Carola sah ihn erstaunt an, so, als hätte er etwas von einem Alien erzählt.
„Was?“, fragte sie und runzelte die Stirn.
Reto lächelte. „Weinglas! Dachterrasse! Du auch?“, sagte er und spitzte verschmitzt die Lippen. Er kannte Carola bereits ziemlich gut, man konnte neben ihr ein Haus abbrechen, wenn sie in etwas vertieft war, bekam sie es nicht mit.
„Oh ja, sicher. Geh schon vor, ich komme gleich nach und bringe eine weitere Flasche Wein mit“, sagte sie mit Blick auf die schon gut geleerte Flasche Rioja. Reto schob die Unterlippe hoch und stieg, gefolgt von Marie, die Außentreppe hinauf. Nachdem er sich auf einen der bequemen Kunst-Rattan-Sessel niedergelassen und wieder einmal die Schönheit der Aussicht bewundert hatte, hing er seinen Gedanken hinterher. Er hatte noch nie ein Interview mit einem Aussteiger geführt. Es war sinnlos zu spekulieren, wie sich das Gespräch mit dem Obdachlosen entwickeln würde. Marie legte ihren Kopf auf sein Bein und er begann sie zu kraulen. Reto seufzte schwer und schloss die Augen. Als Carola eine Viertelstunde später auf die Dachterrasse trat, fand sie ihre beiden Helden schlafend vor. Marie hatte sich auf Retos Schoß geringelt und schaute sie verschlafen an. Carola lächelte mild, drehte sich auf dem Absatz herum und kehrte zu ihrer Fachzeitschrift zurück.
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El Arenal
Aus der Nachbarschaft dröhnte der Basslautsprecher der Diskothek bis hierher in die kleine Nebenstraße. Frauen kreischten, doch hatten sie eigentlich keinen Grund dafür. Abebi Ayodele hätte einen Grund gehabt, doch sie war wie gelähmt vor Angst. Die Tür der Diskothek wurde geschlossen, der Bass wummerte nur noch gedämpft in die Nacht. Das Schreien der Frauen war in der Dunkelheit verklungen.
Der Mann sah das Weiße in den Augen der jungen Frau, die sich mit angstverzerrtem Gesicht an die Mauer drückte. Dunkle Augen in einem ebenmäßig schönen Gesicht, das jetzt vom Schrecken entstellt war. Sie spiegelten die grenzenlose Furcht wieder.
Die Waffe blitzte auf im fahlen gelben Licht der Straßenlaternen.
Scharf gezogene Augenbrauen zuckten. Die zu rot geschminkten Lippen bebten. Todesangst. Sie murmelte etwas in ihrer Muttersprache. Ihre letzten Worte. Grob fasste ihr der Mann an den Hals, dann stach er mit schnellen geübten Bewegungen mehrmals zu.
Abebi Ayodele riss die Augen auf. Ein erstickter Schrei. Ein letztes Aufbäumen. Die Frau taumelte, fiel langsam nach vorne auf die Knie. Ihr Mörder trat einen Schritt zur Seite, betrachtete sie ohne eine Regung. Sie war nur noch Schmerz, hörte ein entferntes Rauschen, das sich schnell näherte. Spürte noch, wie ihre Zähne splitterten als sie mit dem Kopf auf den Boden schlug. Dann war sie tot. Der Mann trat einen Schritt auf sie zu, wischte schnell das Messer an ihrem zu kurzen T-Shirt ab und ging.
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Sóller
Frank Turowski hatte eine Höllennacht hinter sich. Die wenigen Touristen, die sich um diese Jahreszeit abends in Sóller aufhielten, schienen sich alle in der Nähe seines Lieblingsschlafplatzes versammelt zu haben. Das alleine war nicht verwerflich, doch sie hatten grölend und johlend irgendetwas zu feiern. So eine Lautstärke kannte er sonst nur von der Playa de Palma. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und drückte mit Daumen und Zeigefinger fest auf die Augenlider. Die nächste Nacht werde ich woanders verbringen, vielleicht bin ich dann nicht so müde, sagte er sich. Solange die Nächte noch so mild waren, gab es überall einen Schlafplatz unter Gottes Himmel. Als er die Augen wieder öffnete, tanzten kleine glänzende Pünktchen in der Luft. Mist! Wieder Kreislauf, dachte er. Das Leben auf der Straße hatte seine unübersehbaren Schattenseiten. Er wurde kränklicher und litt unter einer Vielzahl von Gebrechen und Wehwehchen. Seine Arthrose ließ die Gelenke unbeweglich werden. Gerade morgens brauchte er immer länger, um in die Gänge zu kommen. Seine Augen wurden schlechter und die Brille, die er trug, konnte seine Fehlsichtigkeit nur noch mangelhaft korrigieren. Manchmal verfluchte er seinen Körper und sein Alter, dann wieder war es ihm tagelang egal. Doch nach der letzten Nacht fühlte er sich wie ein Greis. Er streckte sich ausgiebig, machte ein paar Rumpfbeugen, kniete sich erneut hin, um seinen verschlissenen Schlafsack und die Luftmatratze, die schon lange keine Luft mehr hielt, zusammenzurollen. Er sah sich um. Die Sonne stand noch nicht hoch genug. Also hatte er auch noch Zeit, bis er sich mit dem Schweizer Journalisten traf. Hoffentlich sprang für ihn wenigstens ein Frühstück heraus. Mit dem Gedanken an einen frisch aufgebrühten Kaffee machte er sich auf den Weg zur Placa de Constitució.
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Cala Llombards
Reto war mitten in der Nacht erwacht, als Marie von seinem Schoß sprang. Es war kühl geworden und ihn fröstelte. Sein Nacken war steif und dieser tat ihm auch noch weh als er mit Carola am Frühstückstisch saß.
„Du hättest mich ruhig wecken können“, brummte er und massierte sich mit der linken Hand den Nacken, verzog dabei das Gesicht.
„Ihr zwei saht so vertraut aus, da wollte ich nicht stören“, antwortete sie und lächelte ihn mitfühlend an.
„Ja ja, verarsch mich auch noch“, brummte Reto weiter vor sich hin. Carola stieß belustigt die Luft aus und musterte ihn weiter mit einem schelmischen Gesichtsausdruck.
„Bis zu deinem Date in Sóller wird es sicher wieder besser sein“, sagte sie gutmütig kichernd. Er zog mit der linken Hand die Straßenkarte der Insel heran und fuhr die Straßen mit dem Finger nach. Reto kannte sich auf Mallorca nicht so gut aus wie Carola.
„Wir müssen uns bald aufmachen, wer weiß, wie viel Verkehr uns erwartet“, sagte er und sah über den Rand seiner Brille zu Carola hinüber.
„Stimmt, aber wir haben etwas Zeit“, sagte Carola, schon in Gedanken bei der Parkplatzsuche. Sóller war ein berühmter Touristenort, nicht zuletzt, weil zwischen Sóller und Palma die alte Bahn verkehrte, die selbst im Herbst viele Touristen in den Ort brachte. Auch etliche Busse entluden für ein paar Stunden ihre kulturinteressierten Fahrgäste.
Reto betrachtete die Fotos des Ortes in einem Reiseführer, fand darin eine Straßenkarte. „Was, so klein ist Sóller? Ich dachte immer, es sei ein viel größerer Ort. Dann haben wir ja sicher keine Probleme, diesen Kirchplatz zu finden“, rief er erstaunt aus. Carola nickte und lächelte mild.
„Nein, alle Wege führen dorthin.“
Sóller
Nach einer entspannten Fahrt nach Sóller und einer schnell beendeten Parkplatzsuche trennten sich auf der Placa vor der Kirche ihre Wege. Jeder suchte sich einen Platz in einem der vielen Straßencafés. Sie achteten aber darauf, dass sie noch Blickkontakt halten konnten, aus welchem Grund auch immer das nötig sein sollte. Reto ließ sich in einem der bequemen Korbstühle nieder, bestellte sich einen Café solo und wartete auf Frank Turowski. Dann und wann sah er zu Carola hinüber, die sich einige Fachzeitschriften zum Lesen mitgenommen hatte.
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