Er stieß sich von der Brüstung ab und ging neben ihr in die Hocke, streichelte Maries Kopf. Der Hund genoss die doppelte Aufmerksamkeit und gab ein wohliges Brummen von sich.
„Ich weiß nicht, wie er darauf reagiert“, sagte Reto zweifelnd.
„Ich könnte mitkommen und mich in einem anderen Café aufhalten. Was denkst du?“
Seine Worte waren voller Gefühl, als er sagte: „Du hast mal wieder die besten Ideen.“
Mit einem feinen Lächeln quittierte sie das Lob ihres Partners.
*
Sóller
Manuel, genannt ‚Nelo‘ Cruz, schlenderte mit weit ausladenden Armbewegungen durch das kleine Präsidium von Sóller. Das tat er immer dann, wenn er eigentlich etwas tun wollte, es aber nicht durfte. Wie so oft krankte es an dem Kompetenzgerangel inner- oder unterhalb der spanischen Polizeiorganisationen. Nelo musste sich abreagieren. Er war Beamter der Policía Local, die sich in Spanien nur um die Belange der einfachen Polizeiarbeit kümmerten. Doch hier ging es um ein Delikt, dass der Policía National unterstand: Drogenhandel.
Nachdem es vielen Händlern im Süden der Insel zu heiß geworden war, zog es sie in den bisher von den Razzien verschont gebliebenen Norden der Insel. Bisher waren hier keine derartigen Delikte aufgefallen. Bis jetzt. Gestern hatte er es - eher privat und zufällig - miterlebt, wie sich abends ein paar zwielichtige Gestalten auf der Placa Sa Constitució getroffen hatten. Quasi direkt vor der Polizeistation im Rathaus. Es waren zwei Frauen und drei Männer gewesen, wobei die Frauen bei den scheinbar anstehenden Verhandlungen nichts zu sagen hatten. Sie standen an dem Brunnen, direkt vor der Kirche Sant Bartomeu. Cruz hatte den Eindruck, es seien Nutten. Billig aufgetakelt und Kaugummi kauend hatten sie dort gelangweilt gestanden. So lange, bis die Männer ihre teilweise hitzige Diskussion beendet hatten.
Heute Morgen hatte er sich in das Netzwerk der Polizei eingeloggt und dort sehr schnell die beiden Männer gefunden. Es handelte sich bei beiden um bekannte Drogenhändler aus Palma und S’Arenal. Er hatte den zuständigen Beamten eine Mail geschrieben. Die einzige Reaktion kam in Form eines einzigen Wortes: „Heraushalten!“
Beim letzten Mal, als er sich über einen solchen Hinweis hinweggesetzt hatte, war Folgendes passiert: Sein Chef hatte ihm eine Abmahnung erteilt.
„Was ist los, Nelo? Du tigerst hier herum als wüsstest du nicht, wohin du dein Ei legen sollst!“, fragte ihn sein Kollege Tonio Nadal. Er stützte sein Doppelkinn auf seiner Hand ab und betrachte neugierig seinen Kollegen. Cruz sah ihn an und traf blitzschnell die Entscheidung, ihm seine Gedanken zu verschweigen. Stattdessen schüttelte er nur den Kopf. Er wollte ihm nicht erzählen, was ihm Kopfzerbrechen bereitete, sonst hätte er sich nur wieder eine Standpauke oder Weisung, wie Nadal es nannte, anhören müssen. Danach stand ihm nicht der Kopf. „Nein, alles ist gut“, fügte er noch an. Er legte die Hand auf die Türklinke und drehte sich noch einmal um. So wie jeden Tag.
„Soll ich dir etwas mitbringen, Tonio?“
Nadal schob sich mit zwei Fingern die Brille hoch, schien nachdenken zu müssen. Schließlich nannte er Nelo seinen Wunsch, der sich nicht von dem von gestern unterschied. Nelo hätte es auch gewundert. Grußlos verließ er das Büro, öffnete er eine halbe Minute später die Tür und die Sonnenstrahlen empfingen ihn.
*
Deià
Die festen männlichen Züge bekamen fast einen weichen Ausdruck als er Juan auf sich zukommen sah. Schwarze in die Stirn fallende Locken umrahmten das jugendlich strahlende Gesicht des jungen Mannes. Die graugrünen Augen funkelten ihm entgegen und Lothar Mensing hatte plötzlich Angst, jemand in der Hotel-Lobby könne auf sie aufmerksam werden. Unsicher sah er sich in der Lobby um, doch außer zwei geschäftig aussehenden Hotelportiers war niemand zu sehen. Die meisten Gäste versammelten sich um diese Zeit im Speiseraum des Hotels zum Mittagessen. Juan trat nahe an Lothar Mensing heran und berührte ihn sanft an der Schulter.
„Hallo, ich freue mich, dich zu sehen“, sagte er auf Spanisch.
„Bitte nicht in aller Öffentlichkeit“, zischte Mensing und in die Augen des jungen Mannes trat eine beinahe kindliche Traurigkeit.
„Lo siento, ich vergaß“, sagte er schnell, ging einen Schritt zurück und blickte zu Boden. Mensings raue Stimme hatte ihn verunsichert. „Kommt nicht wieder vor“, sagte Juan und wagte schon wieder zu blinzeln. Über Mensings Gesicht flog ein Lächeln. Ein wenig irritiert blickte er in die Augen hinter den Haarfransen.
„Ich bin … entschuldige … ich bin es einfach nicht gewöhnt“, stammelte er dann und kam sich in diesem Moment albern vor. Zum Ersten, weil er so heftig reagiert hatte und zum Zweiten, weil es für ihn immer noch ungewohnt war, einen Mann als Liebhaber zu haben. Lothar Mensing galt unter seinen Kollegen und Geschäftsfreunden als experimentierfreudig, was das Ausleben seiner Libido anging. Doch Juan war sein erster Mann. Er fragte sich, ob er sich bei einer Frau ebenso schroff verhalten hätte. Sicher nicht.
Juan zog die Augenbrauen hoch und lächelte. „Machen wir einen Spaziergang?“, fragte er und Mensing nickte.
*
Deià
Schritt für Schritt war Jana Hardenberg wieder vor dem Hotel angelangt. Sie war müde, der Tag war anstrengend gewesen und sie freute sich auf eine erfrischende Dusche. Aus dem Speisesaal drangen Stimmen und Geschirrgeklapper nach draußen. Jana hatte Hunger, großen Hunger sogar, doch zuerst dürstete jede Pore ihres Körpers nach einer Abkühlung.
Der Aufzug brachte sie und ihre müden Knochen in die zweite Etage des Hotels – normal hätte sie nicht den Aufzug genommen – sie bog um die Ecke und öffnete ihre Hotelzimmertür. Eine angenehme Kühle und ein dämmriges Licht empfingen sie. Erschöpft ließ sie den Rucksack auf das Bett gleiten und löste die Schnürsenkel ihrer festen Wanderschuhe. Als sie die Schuhe von den Füßen streifte, fühlte sie sich von einer Zentnerlast befreit. Mit einem Kopf voller Eindrücke und einer guten Fotoausbeute für den ersten Tag ließ sie ihre Kleidungsstücke fallen, wo sie stand und stieg in die Dusche. Das lauwarme Wasser lief über ihren Körper und sie blieb regungslos stehen. Bilder und Eindrücke traten erneut vor ihr inneres Auge. Die Serra Tramuntana war atemberaubend schön, viel schöner als sie es sich vorgestellt hatte. Nach dem Abendessen würde sie den Computer einschalten und sich die Fotos ansehen, die sie gemacht hatte. Auf dem kleinen Display der Spiegelreflexkamera konnte man die Schärfe nicht genau kontrollieren. Vielleicht würde sie auch einen Eintrag auf ihrem Urlaubs-Blog machen.
Vielleicht, aber nur dann, wenn sie wirklich Lust darauf verspürte, nicht zu müde war und auch sonst nichts Besseres mehr zu tun hätte, würde sie Pierre anrufen. Um seine Stimme zu hören und weil sie neugierig war, zu erfragen, wie es ihm ohne sie ging. Ganz ohne sie. Oder sie würde es genau deswegen lassen, um ihn nicht zu quälen. Kein Salz in die frische Wunde streuen. Immerhin kam ihre Entscheidung, sich noch vor dem Urlaub von ihm zu trennen, für ihn aus heiterem Himmel. Was in ihrem Kopf und Herzen schon lange vor sich hin gereift war, traf ihren Freund wie ein Hammer. Er hatte sie feige genannt – neben all den anderen Dingen, die er ihr an den Kopf geworfen hatte – und sie konnte ihn so gerade noch davon abbringen, einen Flug zu buchen und ihr hinterher zu reisen.
Nein, sie würde ihn nicht anrufen, das könnte er am ersten Tag sicher als Schwäche auslegen, ihr wieder die Ohren vollheulen. Darauf hatte sie keinen Bock. Stattdessen würde sie mit ihrer Freundin Babsi skypen. Beflügelt von dieser Idee, sprang sie aus der Dusche, rubbelte sich das Haar trocken und schlüpfte in ein bequemes Baumwollkleid. Sie drehte sich vor dem Spiegel, begutachtete ihre Figur und fand, dass sie eine verdammt hübsche Frau war. Wenn Pierre es ihr doch auch dann und wann einmal gesagt hätte. Wer weiß, vielleicht …
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