kann!« Reinhart antwortete lachend: »Wer zuviel begehrt,
verliert alles.«
Die Nacht war vorüber, der Tag brach an, und die
Sonne erhob sich im Osten. Alle Wege waren weiß
vom Schnee. Herr Constant von Granches, ein behäbiger
Ritter, hatte in der Nähe des Teiches genächtigt
und sich nun samt seinem Jagdgefolge zufriedenen
Gemütes erhoben. Er nahm sein Horn, rief den Hunden
und ließ sich seinen Sattel bringen, während der
Jagdtroß lärmte und schrie. Reinhart hörte es und
floh, bis er seinen Bau erreicht hatte. Ysengrin hingegen
mußte bleiben, er zog und zerrte mit solcher Wut,
daß ihm fast die Haut barst. Während der Wolf sich
so abquälte, kam ein Bursche des Weges, der zwei
Hunde an der Leine führte. Er erblickte Ysengrin, der
mitsamt seinem Glatzkopf auf dem Eise angefroren
war und schrie: »Hoho! Der Wolf! Herbei, herbei!«
Die Jäger sprangen samt den Hunden aus dem Hause.
Herr Constant sprengte auf seinem Rosse hinterdrein
und rief: »Laßt los, laßt die Hunde los!« Die Hundeführer
koppelten die Hunde ab, und diese stürzten
sich auf den Wolf, der sich nach Kräften wehrte. Herr
Constant zog sein Schwert und schickte sich an, den
Wolf gut zu treffen. Dieserhalb stieg er vom Pferde
und ging über das Eis hinüber auf ihn los. Von hinten
wollte er ihn treffen, aber er verfehlte ihn, kam durch
den Schwung ins Gleiten und fiel so heftig hin, daß
ihm der Kopf blutete. Mit Mühe erhob er sich und
ging zornig wieder auf den Wolf los. Er gedachte ihn
auf den Kopf zu treffen, aber der Schlag ging daneben:
das Schwert traf nur den Schweif und schnitt ihn
da, wo er angewachsen war, ratzibutz ab. Ysengrin
fühlte sich frei, er sprang davon, von den Hunden verfolgt
und gebissen, den Schwanz jedoch mußte er zu
seinem Schmerz als Pfand zurücklassen. Er floh einen
Abhang hinauf, und als er droben war, blieben die
Hunde ermüdet stehen und kehrten um. Ysengrin aber
eilte weiter, bis er den schützenden Wald erreicht
hatte. Dort hielt er inne und schwur, er wolle sich an
Reinhart blutig rächen.
11. Predigtmärlein des 13. Jahrhunderts
Der neue Adam
Ein Eremit tadelte einstmals Adam und grollte ihm,
daß er ein so leichtes Gebot übertreten habe, anstatt
Mitleid mit ihm zu fühlen. Sein Gefährte wollte ihn
züchtigen; er legte eine Maus zwischen zwei Schüsseln
und sagte zu ihm: »Bruder, bis ich zurückgekehrt
bin, sollst du nicht nachsehen, was zwischen diesen
beiden Schüsseln verborgen ist.« Als jener fort war,
begann der andere nachzugrübeln: warum hat er mir
dieses Gebot auferlegt? ich muß doch einmal sehen,
was er zwischen die beiden Schüsseln versteckt hat.
Er hob die obere Schüssel auf, und die Maus entwich.
Als der Gefährte zurückkam und die Maus nicht mehr
fand, sagte er: »Du tadeltest Adam, weil er ein so
leichtes Gebot übertreten habe, und du hast ein noch
leichteres nicht gehalten.« Hierauf ließ der Eremit von
seiner Anmaßung ab und vertauschte seinen Groll mit
Mitleid.
Der Engel und der Waldbruder
Einst wurde ein Eremit vom Geiste der Lästerung versucht
und grübelte darüber nach, wie doch die Urteile
Gottes ungerecht seien, wie die Guten in Kummer und
die Schlechten in Freuden lebten. Da erschien ihm ein
Engel in Menschengestalt und sprach zu ihm: »Folge
mir, denn Gott schickt mich, daß du mit mir gehest
und ich dir den verborgenen Sinn seiner Urteile
zeige.« Und er führte ihn in das Haus eines biederen
Mannes, der sie wohlwollend und gastfreundlich aufnahm
und mit allem Nötigen bewirtete. Am anderen
Morgen aber entwendete der Engel ihrem Gastfreunde
einen Becher, welchen dieser sehr hoch schätzte.
Hierüber begann der Eremit zu murren, denn er
glaubte, jener sei nicht von Gott gesandt. Die nächste
Nacht verbrachten sie im Hause eines Mannes, der
ihnen ein schlechter Wirt war und der sie unfreundlich
behandelte. Diesem gab der Engel den Becher, den er
dem guten Gastgeber gestohlen hatte. Als der Eremit
solches sah, wurde er noch betrübter und begann eine
noch schlechtere Meinung von seinem Begleiter zu
bekommen. Von dort weitergehend nächtigten sie ein
drittes Mal im Hause eines guten Mannes, der sie mit
großer Freude empfing und ihnen reichlich mit allem
Notwendigen aufwartete. Am anderen Morgen gab er
ihnen einen jungen Mann, seinen Diener, mit, daß er
ihnen den Weg zeige. Diesen stürzte der Engel von
einer Brücke herab und ertränkte ihn im Wasser. Als
der Eremit solches sah, wurde er traurig und ärgerlich.
In der vierten Nacht nahm sie ein trefflicher Mann
aufs beste auf, brachte ihnen mit heiterer Miene reichliche
Speise und ließ ihnen geeignete Lagerstätten
herrichten. Aber das kleine Söhnchen des Gastwirtes,
das einzige, das er hatte, begann in der Nacht zu weinen
und hinderte sie am Schlafen. Da stand der Engel
nächtlicherweile auf und erwürgte den Knaben. Als
der Eremit solches sah, glaubte er, sein Gefährte sei
der Satan selber und wollte sich von ihm trennen.
Jetzt endlich redete der Engel und sprach: »Deshalb
hat mich der Herr zu dir geschickt, daß ich dir den
verborgenen Sinn seiner Urteile zeige, und damit du
erfahrest, daß nichts auf der Erde ohne Grund geschieht.
Jener wackere Mann, dem ich den Becher
fortnahm, liebte ihn zu sehr, bewahrte ihn neidisch
und dachte häufig an den Becher, wenn er an Gott
hätte denken sollen. Deshalb habe ich ihn ihm zu seinem
Heile genommen und jenem schlechten Wirte,
der uns in seinem Hause übel aufnahm, gegeben,
damit er seine Vergeltung noch in diesem Leben empfange,
denn im Jenseits wird ihm kein Lohn mehr zuteil
werden. Jenen Diener aber habe ich ertränkt, weil
er sich vorgenommen hatte, am folgenden Tage seinen
Herrn zu töten, und so habe ich unseren guten Gastgeber
vor dem Tode errettet, seinen Diener aber vor
einer Mordtat, damit er, ohnehin schon ein Mörder
dem Vorsatze nach, um etwas weniger in der Hölle
bestraft werde. Unser vierter Gastfreund endlich tat
viel Gutes, ehe er den Sohn hatte und bewahrte alles,
was er an Lebensmitteln und Kleidung erübrigte, für
die Armen auf; als aber sein Knabe geboren war, zog
er seine Hand von den Werken der Barmherzigkeit
zurück und bestimmte alles für seinen Sohn. Ich habe
ihm den Anlaß zur Habsucht genommen und gleichzeitig
die Seele des unschuldigen Kindes ins Paradies
gebracht.« Als der Eremit solches hörte, wurde er von
jeder Versuchung befreit und begann die Urteile Gottes,
deren Sinn verborgen ist, mit lauter Stimme zu
preisen.
Der Wolf in der Vorratskammer
Es wird erzählt, daß der Fuchs den mageren Wolf
überredete, ihm in eine Vorratskammer Stehlens halber
zu folgen. Der Wolf aber fraß so viel, daß er
durch die enge Öffnung, die ihm Einlaß gewährt hatte,
nicht mehr herauskonnte, und er mußte so lange fasten,
bis er seine ehemalige Magerkeit wieder erreicht
hatte. Er wurde indes überrascht und geprügelt und
mußte unter Zurücklassung seines Pelzes flüchten.
Der büßende Räuber
In einem Hause jenseits des großen Sees bei Neuenburg
in der Diözese Lausanne wohnte ein Geistlicher
namens Wilhelm, der wegen der Wunder, die Gott um
seinetwillen gewirkt haben soll, für heilig gilt. Ein
Ritter, der ihn besuchte, fragte ihn, warum er sich so
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