Dietmar Hüser / Ansbert Baumann
Migration | Integration | Exklusion - Eine andere deutsch-französische Geschichte des Fußballs in den langen 1960er Jahren
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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ISBN 978-3-8233-8294-2 (Print)
ISBN 978-3-8233-0151-6 (ePub)
Einleitung: Migration-Spielt-Fußball
Aktuelle Dimensionen und Perspektiven einer integrativen zeithistorischen Migrations- und Fußballforschung
Dietmar Hüser
Fast 30 Jahre sind vergangen, seit der Soziologe Stéphane Beaud und der Historiker Gérard Noiriel kritisch festhielten, angesichts der überaus geringen Anzahl an empirischen Studien über den Breitensport sei es besser, „unsere Unwissenheit über die integrativen Effekte des Fußballs auf die Migrantengruppen zuzugeben“1. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Weiterhin lässt sich ein allenfalls kursorisches Behandeln des Themas in der westeuropäischen und internationalen Historiographie feststellen, gerade auch in Deutschland und Frankreich. Weder für das eine noch für das andere Land, geschweige denn unter transnationalen Vorzeichen, kann von einem systematischen und differenzierten zeithistorischen Aufarbeiten des Verhältnisses von Arbeitsmigration und Amateursport in den langen 1960er Jahren die Rede sein. Stattdessen sind breite Lücken auszumachen, die „noch immensen Raum für zukünftige Forschung“ bieten,2 etwa was die damals gegründeten Migranten-Sportvereine und „ clubs ethniques “ angeht oder auch die Ligen, in denen diese sich zeitweise in beiden Ländern organisiert hatten, um einen geregelten Spielbetrieb gewährleisten zu können. Zwar liegen mittlerweile einige fallstudienartige Beiträge zu Einzelaspekten vor, die weitaus meisten Publikationen beziehen sich allerdings weit mehr auf den Profi- als auf den Amateursport, sind eher aktualitätsorientiert als historisch dimensioniert, zudem nur ganz selten in eine deutsch-französische oder gar in eine vergleichende europäische Perspektive gerückt.3
Die folgenden einleitenden Passagen wollen in einem ersten Schritt eine kleine historiographische Zeitreise durch die letzten drei bis vier Jahrzehnte unternehmen. Ziel wird sein, die zentralen geschichtswissenschaftlichen Tendenzen im Umgang mit dem Thema Fußball bzw. Migration aufzuzeigen und vor allem den Nexus zwischen beiden Bereichen näher zu beleuchten: Wieviel Fußball steckt in der jüngeren zeithistorischen Migrationsforschung, wieviel Migration in der Geschichtsschreibung über Sport und Fußball der langen 1960er Jahre in Frankreich und Westdeutschland? Anschließend soll es in einem zweiten Schritt darum gehen, den Aufbau des vorliegenden Sammelbandes sowie der darin vereinten Artikel knapp zu präsentieren.
Fußball, Migration und Geschichtswissenschaft
Zur Geschichte des Fußballs
Die Relevanz des Sports als „ a system of meaning through which we know the world “1 wird niemand mehr ernsthaft bestreiten. Die Mobilisierungskraft des modernen Sports, der sich – mit gewissen Ungleichzeitigkeiten von Land zu Land – seit den Anfängen des massenkulturellen Zeitalters um 1850 auszubilden begann und seitdem mehrere quantitative und qualitative Schübe hin zu einem planetären Phänomen und Bedeutungsfeld erfuhr, war stets gewaltig.2 Eine enorme soziale Nachfrage entstand nach sportlichem Spektakel durch Andere wie auch nach eigenem sportlichen Betätigen in allen erdenklichen Formen, vielfach geknüpft an persönliche Vorlieben, Lebensstile und Identitätsentwürfe. Und schon immer meinte und meint Sport mehr als neutrale, unschuldige, harmlose Gesten, Bewegungen und Techniken, schon immer diente und dient Sport als besonders expressive Projektionsfläche für menschliche Phantasien, Sehnsüchte und Bedürfnisse.3 Maßgebliche Trends des politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Alltags und Wandels seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat der Sport – als eine Art „individueller wie gesellschaftlicher Index der Geschichte“4 – zugleich beeinflusst und reflektiert. Im Zusammenspiel verschiedener Akteure – Sportler und Anhänger, Politiker und Funktionäre, Unternehmer und Medienmacher etc. – beschreibt Sport ein Terrain individueller wie kollektiver Weltsichten, die im öffentlichen Raum um Deutungshoheit ringen.5
Steht die Frage nach der Relevanz des modernen Sports kaum mehr zur Debatte, so stellt sich doch nach wie vor die Frage nach der Legitimität von Sportthemen für die Geschichtswissenschaft, zumindest in Deutschland und Frankreich. Über Jahre und Jahrzehnte war hier wie dort zu konstatieren, dass professionelle Historikerinnen und Historiker allem Populär- bzw. Massenkulturellen – und damit auch dem Sport, besonders dem Fußball – mit schroffer Ablehnung begegneten:6 als gehöre es „zum guten Ton des europäischen Bildungsbürgers, […] sich pejorativ […] über populäre Sportarten zu äußern“7. Von einigen wenigen sozialgeschichtlich inspirierten Beiträgen aus den späten 1970er Jahren abgesehen,8 blieb Fußballhistorie ein primär journalistisches Unterfangen.9 Anders als in Großbritannien, dem „Mutterland des modernen Fußballsports“ wie „der modernen Fußballsportgeschichtsschreibung“,10 wo das Genre schon früh „akademische Würde“ erlangte, begannen sich die Dinge im deutsch- und französischsprachigen Raum erst seit den späten 1980er Jahren zu ändern:11 sowohl was das Würdigen von Studien in der Zeitgeschichtsforschung anging, als auch im Verhältnis der Sportwissenschaften bzw. sciences et techniques des activités physiques et sportives zu den „Mutterdisziplinen“.
Die Gründe waren vielfältig. Mehr noch als zuvor eroberte damals Sport – und an vorderster Front wieder Fußball – in Spitze und Breite den Planeten. Professionalisierung und Verwissenschaftlichung, Kommerzialisierung und Medialisierung, Verdichtung und Globalisierung der Wettkämpfe traten in eine neue „Wachstumsphase“, deren Ende sich bis heute kaum absehen lässt. Zugleich vollzog sich ein weiterer markanter Schritt in die „gesamtgesellschaftliche Versportlichung“. Auch das akademische Feld wandelte sich. Das Beerben der Pioniere12 und das Einrücken einer jüngeren Generation mit geringeren Berührungsängsten auf universitäre Posten mochte eine Rolle spielen. Kaum weniger wichtig waren wissenschaftliche Paradigmenwechsel. Der „Boom des Kulturellen“ brachte eine modern(isiert)e Kulturgeschichte hervor, die Massensport und Populärkultur ernster nahm, vorbehaltsfreier erforschte und die Erkenntnispotenziale solcher Themen betonte. Neue analytische Instrumentarien halfen den Sport praxeologisch zu fassen und als ein Kulturphänomen zu verorten, das je nach Konstellation verschiedene Sinnangebote barg.13 Dass „Fußlümmelei“14 und akademische Würde kein Widerspruch waren, offenbarte spätestens der Aachener Historikertag im Jahr 2000, als es eine Sektion zur Geschichte des Fußballs erstmals in das Programm schaffte.15 In deren Zusammenfassung für den Berichtsband zum Historikertag hieß es ebenso verhalten wie vielsagend:
„Ein enormer Popularitätsgewinn hat den deutschen Fußballsport in den letzten Jahrzehnten zu einem Kulturphänomen allerersten Ranges aufsteigen lassen. Die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit der Faszinationskraft des ‚runden Leders‘ steckt allerdings erst in den Kinderschuhen, weswegen die Sektion in erster Linie erkenntnisträchtige Fragestellungen aufzeigen und erst in zweiter Linie mit gesicherten Ergebnissen aufwarten konnte.“16
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