Mit der Presseberichterstattung über internationale Fußballtransfers in den 1950er und 1960er Jahren befasst sich der Beitrag von Jean-Christophe Meyer (Strasbourg): eine Zeit, als einerseits das Spiel in den Medien mehr und mehr Aufmerksamkeit erfuhr, andererseits die Sportstars die Medien als geeignetes Mittel zur persönlichen Selbstvermarktung entdeckten. Bei den quantitativ deutlich zunehmenden Reportagen über internationale Transfers fällt Meyer zufolge besonders auf, dass bei aller Faszination für die Weltläufigkeit der Spitzenfußballer die negativen Assoziationen dominierten: Während Journalisten dauerhafte Vereinstreue trotz internationaler Angebote – wie bei HSV-Mittelstürmer und Nationalmannschaftskapitän Uwe Seeler – mit hochgradiger Anerkennung und Popularität belohnten, sahen sich Spieler, die aus Karriere- oder Verdienstgründen zu Auslandsclubs wechselten, häufig dem Vorwurf ausgesetzt, „sportliche Legionäre“ zu sein.
Die transnationale Geschichte des malischen Spielers Salif Keïta analysiert Alexander Friedman (Saarbrücken) in seinem Aufsatz. Salif Keïta war Afrikas Fußballer des Jahres im Jahre 1970 und absolvierte in den späten 1960er und 1970er Jahren eine überaus erfolgreiche Karriere in verschiedenen europäischen Ländern und Ligen: in Frankreich, in Spanien oder auch in Portugal. Einen besonderen Fokus legt Alexander Friedman im Fall Keïta auf die Wechselwirkungen von Sport und Politik sowie auf die Wahrnehmung und Instrumentalisierung des Starstürmers in der Sowjetunion, nachdem sich das Verhältnis zum Bruderstaat Mali, der seit seiner Unabhängigkeit einen streng sozialistischen Kurs verfolgte, durch einen Militärputsch im November 1968 beträchtlich verkompliziert hatte.
Fußball & Migration zeithistorisch II – Europäische Blicke
Im zweiten zeithistorisch ausgerichteten Kapitel „Europäische Blicke“ betrachtet zunächst Ole Merkel (Bochum) den nordrhein-westfälischen „Gastarbeiterpokal“ zwischen 1966 und 1972, den Arbeits- und Sozialminister Konrad Grundmann mit der Absicht gestiftet hatte, ausländischen Arbeitnehmern die Anpassung an bundesdeutsche Lebensverhältnisse zu erleichtern. In Presseberichten zum Pokalwettbewerb, dessen Organisation dem Westdeutschen Fußballverband oblag, hat freilich – wie sich zeigen lässt – ein eher abwertend-negativer Unterton dominiert, der kaum mit den realen Vorkommnissen übereinstimmte. Ole Merkel zufolge hat es am guten Willen der NRW-Politik jener Jahre nicht gemangelt: Oftmals aber scheiterte dessen praktische Umsetzung innerhalb der Fußballverbände oder an kommunalen Entscheidungsträgern, die andere Prioritäten setzten und Anfragen ausländischer Mannschaften, vor Ort einen Platz für Training und Spiele zu bekommen, immer wieder dilatorisch behandelt oder abgewiesen haben.
Mit dem bundesdeutschen Gastarbeiterfußball der langen 1960er Jahre beschäftigt sich Ansbert Baumann (Saarbrücken) und verweist auf dessen beachtliche Eigenständigkeit. Es wird deutlich, dass die Gründungsinitiativen der ersten Vereine stets von den Arbeitsmigranten selbst ausgegangen sind und sich speziell im baden-württembergischen Raum ein hoher Organisationsgrad entwickelt hat: Allein dort entstanden zwischen 1961 und 1971 ein griechischer, ein türkischer, ein italienischer, ein spanischer, ein portugiesischer und ein jugoslawischer Fußballverband mit jeweils regelmäßigem Spielbetrieb. Laut Baumann hat der DFB die autonomen Entwicklungen provisorisch akzeptiert und sich erst später – als Mitte der 1960er Jahre die Vorstellung einer baldigen Rückkehr in die Heimat für einen Teil der Zugewanderten kaum mehr der Realität entsprach – zu einem verbandspolitischen Nachdenken über mögliche Integrationsmaßnahmen aufgerafft. Etliche solcher Bemühungen trafen allerdings auf Widerstände der „Großen Politik“ in den um Einfluss ringenden Entsendestaaten. Bilanzierend lässt sich Ansbert Baumann zufolge festhalten, dass der Fußball zunächst eher segregierend gewirkt, längerfristig aber eine integrative Eigendynamik entwickelt hat: Faktoren wie das Schiedsrichterwesen, die Jugendarbeit und die mit dem Spielbetrieb einhergehende Erlebnisdimensionen haben zu einem wachsenden emotionalen Beheimaten im regionalen und sozialen Umfeld der „Gastarbeiter“-Spieler beigetragen.
Die Gründungsmythen und tatsächlichen Exklusions- und Inklusionsmechanismen „italienischer“ Fußballvereine in Luxemburg betrachten Jean Ketter und Denis Scuto (Luxemburg) in ihrem Aufsatz. Anhand der Beispiele von Jeunesse Esch und Alliance Dudelange dekonstruieren sie den vermeintlich italienischen Einfluss bei der Gründung luxemburgischer Fußballvereine als Mythos: Zwar sind in den Arbeitervereinen schon in der Frühphase italienischstämmige Spieler vertreten gewesen, eine federführende Rolle spielten diese aber erst in den 1960er und 1970er Jahren. In einer Langzeitperspektive lässt sich konstatieren, dass Migranten*innen aus Italien in Luxemburg heute häufig als Inbegriff gelungener Integration gelten, während die in den 1970er Jahren einsetzende portugiesische Zuwanderung eher als problembehaftet wahrgenommen wird, was sich auch in der Reputation der jeweiligen Fußballvereine widerspiegelt oder am langen Zögern des luxemburgischen Fußballverbandes, portugiesische Vereine in den regulären Spielbetrieb zu integrieren.
Schließlich stellt Andreas Praher (Salzburg) mit der Salzburger „Jugoliga“ den exemplarischen Fall eines mono-ethnischen Spielbetriebs in Österreich vor: Hintergrund war der Abschluss des Anwerbeabkommens mit Jugoslawien 1966. Das Bundesland Salzburg entwickelte sich zu einem beliebten Zuzugsraum für Migranten*innen aus Jugoslawien, die 1973 etwa ein Fünftel der dortigen Arbeitskräfte ausmachten. Jugoslawische Clubs wie Arena Grödig haben sich seit 1970 gegründet und sich Andreas Praher zufolge bei der Namensgebung an Teams in der Heimat angelehnt oder an die dortige Herkunftsregion: Entsprechend eng blieben die grenzüberschreitenden Fußballkontakte. Ersichtlich wird besonders die starke Präsenz und der Einfluss des jugoslawischen Staates, der auf fortwährende Heimatbindung setzte, den Spielbetrieb mitfinanzierte, zugleich kontrollierte, ob die Vereine im Sinne des Titoismus ethnisch durchmischt waren oder ob an nationalen Feiertagen auch sportliche Wettkämpfe stattfanden: Ein wichtiger Grund, der erklärt, warum die „Jugoligen“ nie in den österreichischen Fußballverband eingegliedert worden und heute aus dem kollektiven Gedächtnis nahezu verschwunden sind.
Fußball & Migration soziologisch – Deutsche und französische Blicke
Im dritten, weniger zeithistorisch als sozialwissenschaftlich orientierten Kapitel bietet zunächst William Gasparini (Strasbourg) Einblicke in die möglichen integrativen und exklusiven Effekte des Profifußballs. Beispielhaft wird die Équipe Tricolore angeführt, die gemessen an den anderen Nationalmannschaften die höchste Dichte an Spielern mit Migrationshintergrund aufweist; als eine Art effet de réel nach Roland Barthes wird deshalb Gasparini zufolge die französische Gesellschaft – auch dank der hohen Präsenz des Fußballs in den französischen Medien – noch stärker als Migrationsgesellschaft wahrgenommen. Dabei wird deutlich, dass sich je nach Blickwinkel der (Profi-)Fußball verschieden interpretieren lässt: als Sport der Arbeiterklasse, als Ergebnis der kolonialen Vergangenheit, als Beleg für gesellschaftliches Versagen oder für eine gelungene Integration. Laut Gasparini bedient damit der Fußball eine – im Bourdieuschen Sinne – mentale Disposition, die unbewusste Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata bedingt: Nationalmannschaften können vor diesem Hintergrund sowohl zum Symbol gelungener Integration stilisiert wie auch als Zielscheibe rassistischer Anfeindungen missbraucht werden.
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