Nun, in diesem Fall musste er ja wohl mit Helga gesprochen haben. Im Übrigen kam mir das Thema bekannt vor. Anna bemängelte auch oft, ich spräche zu wenig über das, was mich bewegte, und ich erwiderte dann meistens, sie gleiche dieses beziehungsinterne Kommunikationsdefizit doch ohne weiteres aus, woraufhin sie fragte, wie denn das nun zu verstehen sei. Aber verglichen mit Reinhold war ich bestimmt das reine Musterbild eines mitteilsamen Ehemanns.
„Dass Reinhold nichts über sich erzählt, würde ich so nicht sagen“, entgegnete ich jetzt, während ich meine Zigarette im Rasen ausdrückte, das heißt, Rasen war leicht übertrieben, bei uns wuchs mancherlei, nur wenig Gras. Helga hatte sich oft fassungslos gezeigt, dass wir nichts unternahmen, um das zu ändern.
„Nach ein paar Cognac kann Reinhold sehr gesprächig werden“, fuhr ich fort.
„Du meinst, er trinkt im Dienst?“
„Na klar, oder dachtest du vielleicht, er hätte kein Problem?“
Anna fragte dann noch einmal, was mit dem Kontrollcheck gewesen sei – sie wusste es längst, denn natürlich hatten wir bereits mittags telefoniert -, und ich bestätigte ihr erneut, dass alles mit mir in Ordnung sei, jedenfalls aus der Sicht meines Hausarztes. Ob es sich hier um ein Urteil auf der Basis höchster Kompetenz handelte, darüber konnte man zwar unterschiedlicher Ansicht sein, doch ich wollte es mit meinen Vorbehalten gegenüber Reinhold auch nicht übertreiben.
„Ich bin fit“, sagte ich, und sie warf mir einen weiteren dieser Blicke zu. Manchmal spottete sie ein bisschen darüber, wie ernst ich die Sache mit meinem Training nahm, doch es gab auch Zeiten, da sie das sehr wohl zu schätzen wusste, schließlich hatte sie auch Augen im Kopf, um zu bemerken, wie viele andere in meinem Alter aussahen, das hing auch mit dem Rhythmus ihres Hormonhaushalts zusammen. Gegenwärtig sah sie das alles offenkundig sehr positiv.
Später am Abend sagte sie etwas, das beinahe ein wenig pathetisch klang, also nicht gerade typisch für sie: „Es ist ein großes Glück, dass wir beide uns nach so vielen Jahren immer noch so gut verstehen, und zwar in jeder Hinsicht.“
Ich pflichtete ihr bei, und mir kam der Gedanke, dass es nicht nur ein Glück, sondern fast ein Wunder war, wie leicht sich manches andere vergessen ließ, beispielsweise die Krankheit meiner Mutter. Aber zugleich hatte ich so eine Ahnung, dass es schon bald Zeiten geben könnte, in denen das weniger leicht sein würde.
Ich hatte drei Wochen Urlaub, und nicht nur ich wusste das zu schätzen, sondern auch Anna. Dabei stellten wir beide keine besonderen Ansprüche an einen Urlaub. Es war nicht unsere Art, Monate vorher Pläne zu schmieden, Kataloge zu wälzen und in Reisebüros herumzusitzen. Die Tourismusindustrie jedenfalls dürfte an Urlaubern wie uns kaum Gefallen gefunden haben, sie hätte sich an uns glatt die Zähne ausgebissen, sofern wir ihr dazu überhaupt Gelegenheit gegeben hätten. Unsere Söhne nannten uns „komplette Dilettanten in puncto Urlaubsplanung“. Früher, als Max und Paul noch klein waren und Julius ganz klein und die drei nichts dabei fanden, mit ihren Eltern verreisen zu müssen, hatten wir stets improvisiert, was bedeutete, dass wir jedes Jahr in demselben überlaufenen Badeort an der Ostsee landeten und fast immer nur mit viel Glück noch eine Unterkunft fanden – entweder in einem der völlig überteuerten Hotels oder in einem der sogenannten Gartenhäuser, denen man durchaus ansah, dass sie ursprünglich nicht für touristische Zwecke gedacht gewesen waren.
„Warum können wir nicht auch mal richtig Urlaub machen wie andere Leute?“, lautete alljährlich die vorwurfsvolle Frage unserer unmündigen Söhne, die nie befriedigend beantwortet wurde. Anna und ich, wir mochten es nun mal nicht anders.
Inzwischen brauchten wir nicht einmal mehr zu improvisieren. Das Maß der Elternpflichten war naturgemäß auf jene Restmenge geschrumpft, die sich auf das Begleichen von Rechnungen beschränkte – unter anderem für Reisen nach Amerika, Mallorca oder den Malediven, die unsere Söhne unternahmen, nicht ohne uns zuvor demonstrativ über die vielfältigen Optionen unterrichtet zu haben. Offensichtlich meinten sie uns damit beeindrucken zu können, doch da waren sie bei uns an der falschen Adresse.
Was Anna und mich betraf, so lief es neuerdings darauf hinaus, dass wir unseren Urlaub schlicht und einfach zu Hause verbrachten – nicht aus Sparsamkeit, sondern aus reiner Bequemlichkeit. Wozu bewohnten wir schließlich ein schmuckes Haus mit großem Garten und Liegewiese, für das wir ohnehin eine horrende Miete zahlten? Wir hatten hier unsere Bücher, unsere Musik, ich hatte mein Sportstudio gleich um die Ecke. Und wir befanden uns hier in Berlin, das ja selber als Touristenattraktion galt. Andere Leute nahmen lange Anreisen auf sich, um hier ihre Urlaubstage zu verbringen. Außerdem war Berlin relativ sonnensicher.
„Kontinentalklima“, sagte ich. „Heiße Sommer, kalte Winter. Die Nähe zu Sibirien hat zuweilen auch Vorteile.“
Ich hatte einige Semester Geographie studiert – neben Philosophie, Germanistik und ein bisschen Jura, ich war ein „abgebrochener Student“ wie viele Journalisten meiner Generation – und manchmal gelang es mir immer noch, Anna mit solchen Sprüchen zu amüsieren. Ganz am Anfang, als wir uns gerade kennengelernt hatten, dozierte ich gern mal über solche Themen wie „Steigungsregen“ und sie fand das ziemlich komisch und nahm mich lachend in den Arm. Ein Nachhall hiervon schien sich über all die Jahre konserviert zu haben. Damals hatte Geld für uns gar keine Rolle gespielt. Wir besaßen zunächst weder ein Auto noch ein Telefon noch einen Fernseher oder gar ein Bausparkonto. Vielleicht war es unser spezielles Geheimnis, dass wir uns auch von diesem Daseinsgefühl ein Stückchen bewahrt hatten – zu wissen, dass es auch gut sein kann, wenn gerade nicht alle äußeren Bedingungen perfekt sind und den allgemeinen Konventionen entsprechen.
Wenn Anna und ich jetzt unsere sogenannten Urlaubspläne machten, klang das ungefähr so: „Wir werden morgens lange ausschlafen“ - „Du hast endlich mal wieder Zeit für mehr Sport“ - „Wir gehen jeden Abend schön essen“ - „Wir werden häufiger ins Theater gehen“ - „Es gibt so viel in der Stadt, das wir noch nicht gesehen haben“ - „Lass uns doch auch mal wieder in Ruhe shoppen gehen“ - „Wir können Ausflüge in die Umgebung machen“ - „Das Wetter soll die nächste Zeit gut bleiben und wir haben den schönen Garten“.
Ja, der Garten. Um ehrlich zu sein: letzten Endes blieb es an ihm hängen, zum hauptsächlichen Austragungsort für die Verwirklichung unserer Urlaubspläne zu werden. Wir stellten nämlich bald fest, dass es uns wenig reizte, in der Stadt herumzulaufen, um uns Ausstellungen anzusehen, ältere und neuere weltberühmte Bauwerke zu bestaunen oder uns an Kaufhauskassen zu drängeln. Die Bauwerke würden auch in ein paar Monaten noch stehen und „Klamotten kaufen können wir immer noch, wenn du mal einen freien Tag hast“, befand Anna. Mit Ausflügen ins Umland war es auch so eine Sache. Wenn wir es genau bedachten, wollten wir eigentlich gar nicht ins Umland. Und das Essen in den Lokalen, die uns empfohlen wurden, erwies sich oft genug als enttäuschend, genau wie manche Theaterstücke.
Doch auf den Garten war Verlass – auf ihn und auf das, was Anna als „großes Glück“ nach so vielen Ehejahren nannte, ohne dass damit allerdings gesagt sein soll, wir hätten es an jedem Urlaubstag gesucht..
„Auf die Häufigkeit kommt es nicht an“, sagte Anna, und auch in diesem Punkt pflichtete ich ihr bei. Sie fügte dann aber noch hinzu, dass sie nichts dagegen hätte, wenn die Frequenz während des Urlaubs ein bisschen höher ausfalle als sonst.
Kurz: Es bedurfte keines übertriebenen Aufwandes, um Anna und mir das Gefühl zu verschaffen, wir verstünden unseren Urlaub zu genießen. Wir saßen tagsüber im Garten und an den warmen Frühsommerabenden manchmal bis in die Nacht. Zuweilen zupften wir ein bisschen Unkraut oder hackten die Erde in den Beeten auf. Anna hatte das, was man einen grünen Daumen nennt – anders als Helga, die mit ihrer Gartenpflege einfach nur fanatisch war. Wenn Anna die Blumenkästen vor den Fenstern bepflanzte oder Schalen und Kübel, um sie vor dem Haus und auf der Terrasse aufzustellen, konnte es einem vorkommen, als hätten Stiefmütterchen und Geranien, Oleander, Myrten und Chrysanthemen nur den einen Wunsch, möglichst rasch und prächtig zu gedeihen, um Anna eine Freunde zu machen. Sie wiederum erfreute mein Auge, indem sie in Shorts, T-Shirt und viel zu großen Lederstiefeln umher stapfte, was ich mindestens so sexy fand, als wenn sie sich im Bikini ausstreckte. Eines Tages stellte sich übrigens heraus, dass die Stiefel Julius gehörten. Er machte ein großes Geschrei, nannte irgendeinen Markennamen und fand es „völlig daneben“, dass seine Mutter sein kostbares Schuhwerk für ihre gärtnerischen Ambitionen zweckentfremdete.
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