Ben Worthmann
Nocturno
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Inhaltsverzeichnis
Titel Ben Worthmann Nocturno Dieses ebook wurde erstellt bei
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Impressum neobooks
Er erwachte und stellte fest, dass er äußerst unbequem lag. Merkwürdig, dass er auf einem solch harten Untergrund überhaupt hatte schlafen können. Doch vielleicht hatte er ja gar nicht geschlafen, sondern war tot. Dunkel genug war es jedenfalls um ihn herum, um ihn auf solch einen Gedanken zu bringen. Aber konnte man als Toter noch denken? Eine schwierige Frage, viel zu schwierig, als dass er sie ausgerechnet jetzt hätte beantworten können. Wahrscheinlich war es auch eher so, dass er noch schlief und lediglich träumte, er sei erwacht; so etwas war ihm schon häufiger passiert.
Bevor er diese anstrengenden Überlegungen zu Ende bringen konnte, machte er weitere Entdeckungen: Über ihm war der Nachthimmel, mit einigen Sternen besetzt und stellenweise von Wolkenfetzen verhangen. Doch er konnte ihn nur mit dem linken Auge richtig sehen, da das rechte schmerzhaft geschwollen war. Auch seine Hände, mit denen er sich jetzt prüfend über das Gesicht fuhr, fühlten sich wund an, als er in dem Versuch, sich aufzurichten, den steinernen Boden abtastete. Als er aufrecht saß und instinktiv den Kopf schüttelte, um ihn klar zu bekommen, durchfuhr ihn ein dumpfer Schmerz am Hinterkopf und er ertastete eine Beule. Sofort befühlte er seine Oberschenkel, den Bauch, die Brust auf der Suche nach womöglich weiteren verborgenen Verletzungen, fand aber nichts. Erleichtert registrierte er, dass die Brieftasche an ihrem gewohnten Platz in der Innentasche des Jacketts war, ebenso die flache goldene Uhr an seinem linken Handgelenk. Sie zeigte auf halb eins.
Mit mechanischen Bewegungen klopfte er vermuteten Schmutz von seinen Jeans und dem dunklen Leinenjackett, ordnete unbeholfen das graue Seidenhemd, das halb aus der Hose hing und bis zur Brust geöffnet war, und spürte ein starkes Bedürfnis nach einer Zigarette. Mit seinen wehen Fingern begann er die Jackentaschen zu durchsuchen, stieß auf ein zerknittertes Päckchen und pulte eine von drei ramponierten Zigaretten heraus. Dann begann er nach seinem Feuerzeug zu suchen, fand aber nur seine Schlüssel. Das Feuerzeug fehlte, ein goldener Barren von der Größe einer halben Zigarettenschachtel, der angenehm schwer in der Hand lag. Er war vom selben Designer entworfen wie die Armbanduhr. Beides waren Geschenke, mit seinen Initialen versehen, MZ für Max Ziegler, Geschenke von Hanna. Der Gedanke daran überfiel ihn unvermittelt und verband sich mit einem unbestimmten, bitteren Gefühl, das aber schnell wieder verflog. Mehr als der Verlust des materiellen und ideellen Wertes, den das Feuerzeug darstellte, quälte ihn der erzwungene Verzicht auf die tröstende Zigarette.
Eines stand fest: Er musste hier weg, so schnell wie möglich, alleine schon um rauchen und etwas trinken zu können. Ein eiskalter Wodka war jetzt genau das, was er brauchte. Während er sich sitzend reckte, um die zum Aufstehen benötigte Spannung in seinen Körper zu bringen, und seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, versuchte er herauszufinden, wo er war. In einiger Entfernung stand eine Straßenlaterne; dort, wo er saß, warfen lediglich die beleuchteten Hausnummern ihr fahles Licht. Sie gehörten zu Mietshäusern älterer Bauart, mit einstmals großbürgerlichen Wohnungen, die im Laufe der Zeit zerstückelt und auf deutlich bescheidenere Verhältnisse zugeschnitten worden waren. Er kannte solche Gegenden von langen, regelmäßigen Wanderungen durch die städtische Landschaft, für die er sich halbprofessionell, wie er es selbstironisch zu nennen pflegte, interessierte, wusste alles einzuordnen in die urbane Topographie, und wenn er auf Anhieb auch nicht ganz genau sagen konnte, wo er war, so doch, dass es sich um eine Gegend nicht weit von der neuen, prunkenden, funkelnden Hauptstadtmitte handeln musste, einen Ausläufer jener kargeren Regionen, die vielfach in abruptem Kulissenwechsel in die ausgeleuchteten Arenen des städtischen Treibens übergingen, genau wie umgekehrt.
Als er schließlich stand er, noch immer etwas benommen, machte er ein paar Schritte auf nicht ganz sicheren Beinen. Das Haus direkt vor ihm trug die Nummer 112, das nächste, neben einer Toreinfahrt zu einem der typischen Hinterhöfe, die 112 a, und indem er diese Informationen intuitiv speicherte, fiel ihm auch der Name der Straße wieder ein – Schledestraße. Er war in Kreuzberg. Als nächstes fiel ihm ein, dass er sich früher am Abend anderswo aufgehalten hatte, im Ostteil der Innenstadt, unter anderem in der Friedrichstraße, aber weiter reichte seine Erinnerung nicht.
Abermals tastete er nach den Zigaretten, bemerkte, dass er die eine immer noch unangezündet im Mund hatte, vermisste erneut das Feuerzeug, fluchte stumm, tat einige weitere Schritte und verharrte sofort wieder, als er auf dem Boden vor der Hausfront zwei dunkle Schatten erblickte. Im ersten Moment dachte er an Sperrmüll oder irgendwelche Lumpenbündel, aber dass das ein Irrtum war, sagte ihm ein unangenehmes, fröstelndes Gefühl, das ihm den Rücken hinauf kroch, während er langsam näher trat. Zugleich tauchten vor seinem inneren Auge Bruchstücke von Bildern auf. Es waren schemenhafte Szenen eines Kampfes, die ihm eine erste vage Ahnung davon gaben, woher seine Blessuren rührten.
Der Körper der Frau lag, den Kopf zur Hauswand hin, in leicht gekrümmter, halb seitlicher Haltung quer auf dem Gehweg. Er wusste, dass es die Frau war, noch bevor er näher heran getreten war, um sich zu ihr hinab zu beugen. Etwas schimmerte matt zwischen den dunklen Haaren – eine goldfarbene Spange. Er erinnerte sich plötzlich, wie sie ein paar Mal Lichtreflexe geworfen hatte, als er der Frau gefolgt war, vorhin, in den helleren Straßen. Das war aus einer Laune heraus geschehen, ohne benennbare Absicht. Etwas an ihrem Gang hatte seine Aufmerksamkeit geweckt. Sie hatte sich mit der beiläufig graziösen Geschmeidigkeit eines Menschen bewegt, der sich seiner Körperlichkeit bewusst ist, ohne dass es einstudiert wirkt. Ihr Gesicht hatte er nicht gesehen, nur die Rückenansicht ihrer schlanken, mittelgroßen Gestalt in einem kurzen Rock und einem weißen knappen Oberteil.
Sie lag dort wie im Schlaf. Soweit sich das im spärlichen Licht erkennen ließ, war sie relativ jung und auf eine eher alltägliche Art attraktiv, ähnlich wie viele junge Frauen, die einem auf der Straße, in Geschäften oder in Cafés und Restaurants begegneten. Das Oberteil war ein wenig verrutscht und gab ein Stück ihres flachen Bauchs frei, die kleine Jacke, die sie wegen der hartnäckigen Hitze dieses Sommerabends nur locker über die Schultern geworfen hatte, als er ihr gefolgt war, lag neben ihr, ebenso ihre Handtasche. Da er zunächst kein Anzeichen von Atmung erkennen konnte, beugte er sich noch näher zu ihrem Gesicht und meinte einen schwachen Duft von Parfum und Alkohol wahrzunehmen. Er konnte zwar nicht mit letzter Sicherheit beurteilen, ob sie tot war oder nur bewusstlos, doch irgendetwas sagte ihm, dass sie noch lebte. Das aber hieß, dass er etwas tun, dass er Hilfe herbeirufen musste – nur wie? Ein Handy hatte er, wie fast immer, nicht dabei, da er Handys hasste. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, was aber mit Blick auf seine eigene, heikle, kaum erklärbare Situation letztlich nur von Vorteil war. Deshalb verwarf er auch sofort die Idee, im nächsten Haus irgendwo anzuklingeln. Er musste hier weg, dachte er erneut, aber vielleicht sollte er wenigstens die Frau in jene Position bringen, die in den Erste-Hilfe-Regeln empfohlen wurde – stabile Seitenlage hieß das wohl, soweit er wusste. Er wagte es jedoch nicht, sie anzufassen, vor allem aus Furcht, etwas falsch zu machen, aber nicht allein deswegen.
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